»Ich habe früh meinen eigenen Glauben entwickelt«
Deborah Feldman stieg Anfang 20 aus der ultraorthodoxen Satmar-Gemeinde in Brooklyn aus. Den Glauben hat sie nicht verloren.
Pädagoginnen das Thema mit den Kindern anhand eines Bilderbuchs („Der rote Mantel“) auf. Die Kinder selbst seien damit aber sehr pragmatisch umgegangen. Nämlich mit der Frage: Wie könne man den Flüchtlingskindern helfen, damit es ihnen besser gehe? Leid, von Menschen gemacht. Ähnliches berichtet Amina Baghajati, Mediensprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft und selbst als Religionslehrerin tätig. „Die Kinder spüren ganz deutlich: Dieses Leid wurde von Menschen gemacht.“Die Frage, warum Gott das zulasse, komme eher bei Naturkatastrophen auf. Und im Alltag, wenn Eltern wegen ihrer Religion angefeindet werden. „Es kommt oft die Frage: , Warum hassen sie uns so?‘“, sagt Baghajati.
Als Lehrerin versuche sie, den Kindern zu zeigen, dass sie auch Teil der Gesellschaft seien und andere aufklären können. Dass muslimische Werte die gleichen wie bei anderen Religionen seien: Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe. Das Bild von einem gütigen Gott mit weißem Rauschebart gibt es im Islam übrigens nicht. Denn Gott darf im Islam nicht dargestellt werden. „Wir haben eine abstrakte Vorstellung: Gott, der Barmherzige, der Liebende.“
Schwierig zu verarbeiten ist für Kinder freilich der Tod im nahen Umfeld. Gerade das weckt aber auch die Sehnsucht nach einem Leben im Jenseits. Im Kindergarten im 15. Bezirk arbeitet man mit Bilderbüchern das Thema auf. „Sobald etwas Konkretes da ist, mildert es die Angst“, sagt Barbara Reichtomann. Auch das Bild vom Himmel sei für viele Kinder tröstlich. Wenn das freilich nicht bereits durch ein anderes abgelöst ist. Denn das Hinterfragen – etwa ob es denn den Himmel tatsächlich gibt – wird mit der Zeit nicht weniger, sondern mehr. Und das ist laut Habringer-Hagleitner auch gut so: „Ein religiös entwickelter Mensch ist immer auch ein kritischer Mensch im Hinblick auf Tradition. Er hinterfragt ein Leben lang.“
Eine entscheidende Zäsur kann dabei die Pubertät bedeuten. Dann werden politische, soziale und religiöse Werte hinterfragt. „Je massiver Eltern etwas vermitteln, desto mehr hinterfragen die Jugendlichen“, sagt Rupp. Danach folgen wenig allgemeingültige Regeln. Manche Kinder wenden sich vom Glauben ab, andere nicht. Habringer-Hagleitner ist überzeugt, dass der Abfall vom Glauben auch damit zu hat, dass das Denken und Empfinden im Kindesalter von Erwachsenen nicht ernst genommen wurde. Schlussendlich bleibt jedem das Bild, das man sich selbst vom Glauben gemacht hat. Ganz egal, ob Jesus in der Kindheit blond, schwarz- oder braunhaarig war und Gott noch immer durchsichtig ist.
Wer an einem Sonntagvormittag durch den Brooklyner Stadtteil Williamsburg in New York schlendert, bekommt kaum Menschen zu Gesicht. Touristen nehmen meist erst am Nachmittag die L-Train zur Bedford Avenue, um die vielen kleinen VintageBoutiquen zu besuchen oder in einem der Cafes´ Matcha-Tee zu schlürfen. Doch wer die Bedford Avenue ein paar Straßenzüge Richtung Süden entlanggeht, fühlt sich plötzlich, als wäre er in einer anderen Stadt. Hier beginnt das angeblich zweitgrößte ultraorthodoxe Viertel außerhalb Israels. Der Sonntag ist hier ein normaler Arbeitstag, an dem die gelben Schulbusse mit hebräischem Schriftzug fahren, die Straßen sind voller Mütter mit zwei, drei, manchmal fünf, sechs oder mehr Kindern sowie Männern in schwarzer Kleidung, mit Backenlocken und großen Mützen. Besucher werden gar nicht erst wahrgenommen.
Genau diese Gegend war zwanzig Jahre lang die Heimat von Deborah Feldman – oder das Gefängnis, wie sie es später nannte. Sie wuchs in der chassidischen Satmar-Gemeinde auf, einer sehr schnell wachsenden ultraorthodoxen jüdischen Glaubensgemeinschaft, die aufgrund ihrer strengen Regeln nicht selten als Sekte bezeichnet wird. Mit Anfang 20 und nach einer Zwangsverheiratung kehrte sie Familie und Gemeinde den Rücken, lebte mit ihrem heute zehnjährigen Sohn zuerst noch einige Zeit in New York und heute in Berlin. Über ihre Kindheit und die Entfremdung von der Gemeinde schrieb sie in ihrem Buch „Unorthodox“, das soeben auf Deutsch erschienen ist. Das Buch landete in den USA innerhalb kürzester Zeit auf den Bestsellerlisten, die Satmar-Gemeinde verdammte das Buch und die Autorin.
Feldman hat bis heute an ihrem Glauben festgehalten. Auch wenn sich der im Lauf ihres Leben stark verändert hat. In ihrer Familie war Gott stets eine strenge, harte Figur, es galt viele Regeln zu beachten. Hartherzigkeit vor allem gegenüber Kindern war eine der Grundeigenschaften der Erwachsenen. „Es ist schwer, Dinge zu hinterfragen,
Deborah Feldman,
geb. 1986 in New York, wuchs in der chassidischen SatmarGemeinde im zu Brooklyn gehörenden Stadtteil Williamsburg, New York, auf, wurde zwangsverheiratet und bekam einen Sohn.
Mit Anfang 20
kehrte sie der Gemeinschaft den Rücken zu und lebte noch einige Zeit in den USA und schrieb ihre Geschichte in dem Buch „Unorthodox“nieder. Heute lebt sie mit ihrem Sohn in Berlin, soeben erschien „Unorthodox“im Secession Verlag auf Deutsch. die Erwachsene dir mitgeben, wenn du ihnen vertraust.“Dennoch stellte Feldman sich früh die Frage, wieso der Gott, von dem ihre Großmutter, ihre Onkeln und Tanten sprachen, ein so böser Mensch sein sollte. „Ich dachte mir: Ich kenne Gott, er ist mein Freund. Es kann nicht wahr sein, was sie über ihn sagen. Ich habe schon sehr früh begonnen, meinen eigenen Glauben zu entwickeln.“ Gott und der Holocaust. Großgezogen wurde sie von Holocaust-Überlebenden. „Das Leiden war immer ein Teil von ihnen und ihrem Glauben.“Sie sei mit dem Wissen aufgewachsen, dass Gott Leid nicht verhindern könne. „Ich habe immer das Gefühl gehabt, da ist jemand da oben und es gibt eine Bestimmung für mich. Aber es geht nicht darum, dass Gott Unheil verhindert. Ich habe erst sehr spät verstanden, dass Gott nicht für den Holocaust verantwortlich ist. Selbst er konnte ihn nicht verhindern.“Wenn Kinder heute also fragen, wie es Gott zulassen könne, dass so viele Menschen auf der Flucht sind und Schreckliches erleben, dann würde sie darauf sagen: Gott ist da, aber er kann das nicht beeinflussen. Es geht darum, was wir tun können, um den Flüchtlingen zu helfen.
Warum sich bei Deborah Feldman schon so früh Zweifel an der SatmarGemeinde regten und sie sich als junge Frau entschied, die Sicherheit, die eine solche Gemeinschaft bietet, gegen ein zwar ungewisses, aber freies Leben einzutauschen, erklärt sie so: Sie habe keine richtigen Vorbilder in ihrer Familie gehabt. „Ich hatte viel Zeit nachzudenken, ohne von irgendwem beeinflusst zu werden.“Ihr Vater galt aufgrund einer Entwicklungsstörung und des merkwürdigen Verhaltens, das er dadurch an den Tag legte, zuerst auf dem Heiratsmarkt lang als unvermittelbar, später hielt er sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Der Tochter fiel bald auf, dass ihr Vater anders war. Vielleicht gelang es ihr deshalb leichter als anderen jungen Frauen in der Gemeinschaft, Fragen zu stellen. „Meine innere Stimme hat sich irgendwann eingeschaltet und wurde immer lauter.“
»Ein religiös entwickelter Mensch ist immer auch ein kritischer Mensch.«