Ein zweites Leben für Bücher
Tamara Neubauer arbeitete als Sozial- und Kulturanthropologin, bevor sie beschloss, sich selbstständig zu machen. Nun produziert sie Taschen und Geldbörsen aus alten (Kinder-)Büchern und erzählt so deren Geschichte weiter.
Das Gefühl kam schleichend. Gebeugt über Laptop und Bücher wusste Tamara Neubauer vor drei Jahren irgendwann: So kann es auf Dauer nicht weitergehen. Die Sozial- und Kulturanthropologin arbeitete damals auf eine Karriere an der Universität hin, schrieb ihre Dissertation über Wissenschaftstheorie. Ein Themengebiet das, wie der Name schon sagt, ziemlich sperrig sein kann. „Ich habe mich wochenlang mit einem einzigen kleinen Teil der Geschichte befasst, der dann doch nur einen kleinen Anteil am großen Ganzen hatte. Und überhaupt keine Relevanz für das, was draußen passiert ist“, sagt die 33-Jährige heute. Zum Ausgleich fing sie wieder an, handwerklich zu arbeiten. Alles Mögliche auszuprobieren. Von malen bis nähen.
Zuerst waren es nur kleine Geschenke für Freunde, die gut ankamen, bis sie sich auf Designmärkte als Ausstellerin traute. So wie auf die MakerFaire-Messe, die heute, Sonntag, noch in Wien stattfindet und auf der Bastler, Erfinder und Kreative ihre Arbeit herzeigen. „Die Märkte waren ein Motivationsschub, und das Feedback war spannend“, erzählt sie. Erstens musste sie sich dafür überlegen, wie sie sich präsentieren wollte, zweitens sei es interessant gewesen, zu sehen, wie die Kunden auf ihre Produkte reagierten: Kleine Geldtaschen, die sie aus alten Pixibüchern produzierte, hätten Kinder zum Beispiel gar nicht interessiert, wohl aber Erwachsene, die ihre geliebten Pixibücher aus der Kindheit fortan nostalgisch in der Tasche mit sich tragen konnten. Zu ihrem größten Verkaufsschlager sollte sich aber etwas anderes entwickeln, nämlich Büchertaschen. Und daran war auch Friedrich Schiller schuld.
Jedes zehnte Unternehmen in Österreich gehört der Kreativbranche an, wobei der Großteil davon als Ein-Personen-Unternehmen tätig ist. Doch während erfolgsträchtige Branchen wie Software und Gaming, aber auch Werbung und Architektur viel Geld ver- sprechen, verdienen andere mit kleinen, meist selbst gefertigten Produkten oft nur einen Teil ihres Lebensunterhalts. Hinter den kleinen HandwerkDesign-Unternehmen steht meistens kein ausgeklügelter Businessplan, sondern eine spontane Produktidee, die später in die Selbstständigkeit führt. Ein Geschenk zum Anfang. Neubauers Büchertaschen nahmen etwa Gestalt an, als sie in einem Antiquariat zwei alte Bücher mit den gesammelten Werken von Friedrich Schiller geschenkt bekam. „Wenn Sie etwas daraus machen können, dann freu ich mich“, sagte der Besitzer. Einen Wert hatten die Bücher nicht mehr, die Bücherrückseite war bei beiden gebrochen, aber sie waren zu schön, um sie wegzuwerfen. Also beschloss Tamara Neubauer Büchergeldbörsen daraus zu machen, die in einer Weiterentwicklung zu größeren Buchtaschen wurden. Für die Taschen löst sie die Buchcover von den Seiten, zieht je nach Art des Buchcovers noch eine Folie darüber, näht mit Stoff und Leder den Taschenboden und fixiert alles mit Ösen und Nieten. Je nach Größe des Buches kommen noch Innentaschen aus Stoff hinein.
Die Träger sind meistens aus Leder, das Neubauer genauso wie die Bücher, gebraucht sammelt. Etwa durch alte Ledermäntel, Restposten im Geschäft. „Leder ist ein wertvolles Produkt“, sagt Neubauer. Außerdem hätte sie eine Faible für Materialien, die an- ders benutzt werden als ursprünglich geplant. So wie die Uhr aus Holz, die sie am Armband trägt.
Während sie erzählt, sitzt sie auf einem alten Sessel in ihrer Werkstatt im zweiten Bezirk, die sie sich mit vier anderen Kreativen teilt. Der Raum ist voller alter Möbelstücke und Gemälde einer Künstlerin, die hier ihr Lager hat. Außerdem befindet sich in der Ecke ein Klavier, an dem eine ihrer Kolleginnen regelmäßig übt. Neubauers Arbeitsplatz ist ein kleiner Schreibtisch direkt beim Fenster, auf dem eine Nähmaschine steht. Dahinter wartet eine alte Stanzwalze auf ihren Einsatz. „Ich mag alte Dinge irrsinnig gern“, sagt Neubauer, die ihre Fingernägel rot lackiert trägt, passend zu den roten Knöpfen ihrer grau-schwarzen Bluse. Auf der Suche nach Geschichte. Sie ist viel auf Flohmärkten unterwegs, hat neben dem Faible für alte Bücher auch eines für alte Möbel und Werkzeug. Besonders, wenn sie nicht weiß, für was es eigentlich nützen soll. Es sind die Geschichten, die die alten Dinge erzählen, die sie faszinieren. Die Vorstellung, was sie erlebt haben, die Verbin- dung in eine andere Zeit. Früher hatte sie das im Studium als Kulturanthropologin, jetzt mit dem Material, mit dem sie arbeitet und mit dem sie sich umgibt. Daher auch der Name ihres Labels: Ana Chron. Von Anachronismus.
Die Bücher, die sie zu Taschen verarbeitet, sind zum Großteil Kinderbücher aus den 50ern und 70ern. Alles Bücher, die gerade in Antiquariaten weggeworfen werden, weil sie sich nicht mehr verkaufen lassen. „Die Bücher sind zum Teil sehr schön illustriert. Kinder interessieren sich aber nicht mehr dafür, weil der Inhalt überholt ist.“Neubauer haucht ihnen nun neues Leben ein. Nachdem sie darin gelesen hat. Mittlerweile hat sie eine Leidenschaft für Hausfrauenliteratur vor 100 Jahren entwickelt, die wie Seifenopern seien, aber viel über die Gesellschaft und die Moralvorstellungen von damals erzählen würden. Manchmal würde es auch eine Zeit dauern, bis sie einen Konflikt im Buch verstehe. Einmal hätte sich in einem Buch ein Mädchen mit seinen Eltern gestritten, weil es zum Ball ein langes Kleid anstatt eines kurzen tragen wollte. Erst später hätte Neubauer begriffen, dass damals nur erwachsene Frauen lange Kleider tragen durften.
Die Pixibuchtaschen haben die Kinder nicht interessiert, dafür die Erwachsenen.
Ein Stück aus einer anderen Zeit. Immer wieder würde sie auch Erinnerungsstücke in den Büchern finden. Dinge, die die Vorbesitzer vergessen hätten. Einmal fand sie ein getrocknetes Edelweiß zwischen den Blättern, einmal eine Schwarz-Weiß-Fotografie mit einer Familie vor einem Weihnachtsbaum. Es sind Dinge wie diese, die sie ihren Kunden auch erzählt, wenn sie die Taschen verkauft. Was in den Büchern gestanden ist, was sie darin gefunden oder wo sie sie gekauft hat. „Manchmal erzählen mir auch die Kunden, was drinnen steht“, sagt Neubauer. Gerade bei Kinderbüchern hätten sich schon witzige Gespräche entwickelt.
Zwischen 40 und 60 Euro kostet eine Tasche, je nach Größe. Geld, das sich vor allem für den Arbeitsaufwand rechnet. Abgesehen von den Büchertaschen, die das Hauptgeschäft ausmachen, verkauft sie noch Büchergeldbörsen und kleine Federpenale aus Kork. Alles freilich von Hand gemacht. Davon leben kann sie nicht.
Neben ihrem Job ist sie noch als Lernbetreuerin in den Fächern Englisch, Mathematik und Deutsch tätig. Was eine gute Abwechslung sei. Bereut hat sie den Schritt in die Selbstständigkeit übrigens nicht. „Ich habe mich früher stark fremdbestimmt gefühlt“, erzählt sie. Wer forscht, lebe in erster Linie von Anträgen für Forschunsgelder. Braucht Monate dafür, bis die Stapel an Papier dafür endlich ausgefüllt und abgeschickt sind. Dabei sei auch das Eigenmarketing wichtig. Sie hätte oft das
Einmal hat sie ein Edelweiß im Buch gefunden, ein andres Mal ein altes Familienfoto.