Rettet die Parasiten!
Sie stellen die größte Gruppe der Arten, sie haben auch Nutzen, aber beliebt sind sie nicht, die Plagegeister. Und geschützt werden sie auch kaum.
Als die Kalifornischen Kondore 1987 fast am Ende waren, fing man die letzten 22 ein und zog mit ihnen ein Zuchtprogramm auf. Es hatte Erfolg – im Mai 2013 zählte man 435 Exemplare, 237 in Freiheit –, aber er wurde mit einem Kollateralschaden bezahlt: Nach dem Fang wurden die Tiere von Parasiten befreit, von Colpocephalum californica etwa. Das war eine Laus, die nur auf den Kondoren lebte, sie tat ihnen nichts, ließ sich herumfliegen und naschte an Federn.
Nun gab es sie nicht mehr, man hatte sie ausgerottet. „Das war ein Fehler“, urteilte Heather Proctor, „man kann verstehen, dass es passierte, aber es war beklagenswert.“Proctor, Biologin an der University of Alberta, ist auf Läuse von Vögeln spezialisiert, sie hat 2004 aber eine breitere Zwischenbilanz gezogen, eine bittere (Science 305, S. 1632): Damals standen auf der Liste der ge- fährdeten Arten 12.200 Tiere und Pflanzen. Aber von denen, die automatisch mit einer Art verloren gehen würden, war keine einzige dabei. Diese Lebewesen, die auf spezielle Partner angewiesen sind, heißen „affiliative“, manche sind Symbionten, die meisten sind Parasiten, sie stellen 40 Prozent aller Arten, sind die bei Weitem größte Gruppe.
Auf die Rote Liste hat es fast keiner geschafft, eine Laus ist dort, eine Zecke auch, aber nicht einer der 40.000 Würmer, die die Gedärme plagen. Wozu sollte man auch Parasiten schützen? Muss man nicht froh sein über jeden, den man los wird? Was für ein Segen war es, als 1980 die Pocken ausgerottet wurden, und was für einer, als das 2011 auch bei einer Tierkrankheit gelang, der Rinderpest! Die kam 1887 nach Afrika, sie breitete sich rasend aus, zwei Drittel der rinderhaltenden Massai verhungerten, die toten Menschen und Tiere lagen „so dicht, dass die Geier vergaßen zu fliegen“. Das nicht mehr beweidete Land verbuschte, man sieht die Folgen noch heute, in der Serengeti etwa, und wer dort lebt, bekommt sie auch zu spüren: In den Büschen gedeihen Tse-Tse-Fliegen, die Überträger der Schlafkrankheit.
Solche Macht haben Parasiten. Warum nimmt man sie dann kaum wahr? Viel mag daran liegen, dass sie eine so große wie heterogene Gruppe sind: Es gibt Einzeller wie den Erreger der Malaria, es gibt ellenlange Bandwürmer, es gibt milde, die ihre Wirte kaum schwächen, es gibt Marodeure. Wespen etwa, die ihre Eier in Insekten legen, die Brut frisst sie auf. Das machen sich Gärtner zunutze, die keine Insektizide mögen: Die Wespen gibt es im Fachhandel.
Den Ruf der Parasiten generell haben diese Wespen nicht gehoben, auch ihr sonstiger Nutzen wurde ihnen kaum gedankt, etwa der ihrer Zeugenschaft: An Genen von Läusen und Magenbakterien lassen sich frühe Wanderungen der Menschen detaillierter nachzeichnen als an denen der Menschen selbst (s. „Presse am Sonntag“, 7. 2. 2016). Das hat die Forensik gerade dahin verfeinert, dass auch Lebenswege von Individuen rekonstruiert werden können: Ein auf das Herpex-Simplex-Virus getesteter US-Bürger hat nicht nur die in Amerika verbreitete Variante im Leib, sondern auch die ostasiatische: Er war im Koreakrieg (Virology 1. 4.). „Dunkle Materie der Biologie“. Aber es geht nicht nur um Individuen, es geht auch um ganze Ökosysteme. Die werden bisher höchst unzureichend beschrieben. Man stellt sie sich als Nahrungsketten vor, die Pyramiden bilden: unten Pflanzen, darüber Pflanzenfresser, darüber Jäger. Aber die größten Jäger werden von den kleinsten Parasiten gefällt. Umgekehrt nähren Parasiten als Beute. Für Kevin Lafferty (UC Santa Barbara) sind sie deshalb die „dunkle Materie der Biologie“, die unbemerkt die Systeme zusammenhält. Und als er sie in Modelle von Nahrungsketten einbezog, verschwand die Pyramide zugunsten eines Gebildes, das kreuz und quer vernetzt ist (Pnas 105, S. 11482).
Das ist hohe theoretische Biologie mit hoher praktischer Relevanz für die Stabilität von Ökosystemen. Als ein solches kann man auch das Gedärm betrachten: Viele Würmer entgiften es, sie akkumulieren Schwermetalle. Entwurmt wird doch, gottlob! Aber seit uns keine Würmer mehr plagen, tun es neue Leiden, etwa Entzündungen wie Morbus Crohn. Daran litten die Patienten von Joel Weinstock (Tuft’s Medical Center), er ist Gastroenterologe und Parasitologe und verknüpfte in den 1990er- Jahren beides zu einer unkonventionellen Kur: Er verabreichte Würmer – Schweinewürmer (Trichuris suis), die leben in Menschen nicht lang –, es half 72 Prozent der Behandelten (Nature 491, S. 183). Wie? Das hat eben Deepshuka Ramanan (New York) gezeigt: Bei Morbus Crohn macht sich in der Darmflora das Bakterium B. vulgates breit, es dünnt den Schleim der Darmwand aus. Trichuris suis sorgt durch Stärkung des Immunsystems dafür, dass es zurückgedrängt wird (Science 14. 4.).
Das passt ins breitere Bild der Hygiene-Hypothese: Zur Jahrtausendwende war jedes fünfte Kind in den Zentren von Industriestaaten mit Allergien oder Autoimmunkrankheiten geschlagen. Auf dem Land und in den Armenhäusern der Erde gibt es die kaum, dort hat das Immunsystem anderes zu tun: Es muss Parasiten abwehren, nicht nur Würmer, auch Bakterien, etwa die in der Erde, mit denen spielende Kinder einst in Berührung kamen. Seit sie es nicht mehr dürfen, sucht das Immunsystem neue Betätigung und reagiert auf Harmloses – Pollen etwa –, oder es wendet sich gegen den Körper selbst.
Ganz taufrisch ist das nicht: „Aus der Kriegsschule des Lebens – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“Das ist von Nietzsche ( Götzendämmerung, Aph. 8), zitiert wird es in Trends in Ecology & Evolution (21. 3.): Evolutionsbiologin Marlene Zuk (University of Minnesota) untermauert damit die Forderung, auch bei Tieren die Hygiene nicht zu übertreiben und in Zoos und Zuchtprogrammen „auch die Parasiten zu schützen, um ihrer Wirte willen“. Die müssen vorbereitet sein auf die Freisetzung. Und auch bei denen sollte die Evolution, die weithin vom Rüstungswettlauf zwischen Parasiten und Wirten vorangetrieben wird, nicht zum Stillstand gebracht werden.
Aber muss es überhaupt handfeste Gründe zum Schützen geben? Andres´ Gomez´ (American Museum of Natural History) schüttelt den Kopf (Inter. J. Paras. 2, S. 222): „Auch Parasiten haben ihren Eigenwert. Es gibt keinen Grund, in ihnen nicht Schönheit zu sehen.“
Sie richten nicht nur Schaden an, sie bringen auch Nutzen, Ökogärtnern etwa. Den größten Nutzen bringen sie für die Gesundheit: Zu viel Hygiene macht krank.