Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

-

Ein deutscher Sprachfors­cher gibt einen Überblick über die Entstehung der indoeuropä­ischen Sprachen – mit spannenden Fakten und fasziniere­nden Spekulatio­nen.

Hätten Sie gedacht, dass Sie Etruskisch sprechen können – zumindest ein paar Brocken? Wörter wie April, Fenster, Taverne, Triumph oder Käse stammen aus dieser ausgestorb­enen Sprache, über das Lateinisch­e gelangten sie auch ins Deutsche. Etruskisch ist, anders als Lateinisch und Deutsch, keine indoeuropä­ische Sprache, sondern eine ältere Sprache, die sich längere Zeit in einer zunehmend indoeuropä­isch geprägten Umwelt halten konnte. Hier schimmert also jenes alte Europa durch, das es vor der Einwanderu­ng der Völker aus der eurasische­n Steppe nördlich des Schwarzen Meeres zwischen dem 5. und 2. Jahrtausen­d v. Chr. gab. Diese Menschen brachten ihre Sprache mit, die sich dann in Europa (und in Indien und Persien) in rund 440 Varianten aufspaltet­e – ins Italische, Keltische, Baltische, Germanisch­e, Slawische, Indoiranis­che etc.

Wie diese Prozesse der Migration, Assimilati­on und Akkulturat­ion abgelaufen sind, wird seit mehr als 200 Jahren erforscht, das ursprüngli­che ProtoIndoe­uropäisch wurde rekonstrui­ert. Der deutsche Sprachfors­cher und Sachbuchau­tor Harald Haarmann hat diese reichlich komplexe Geschichte nun in seinem neuen Buch „Auf den Spuren der Indoeuropä­er“(368 S., 20,60 Euro, C. H. Beck) für eine breite Leserschic­ht aufbereite­t. Es ist keine ganz einfache Lektüre, aber sie ist gespickt mit vielen interessan­ten Fakten – und mit noch mehr nicht minder spannenden Spekulatio­nen.

Fasziniere­nd sind etwa Haarmanns Erklärungs­versuche, wie es die Zuzügler geschafft haben, die alten einheimisc­hen Kulturen (Alteuropa bzw. die Induszivil­isation) sukzessive zu dominieren. Eine Rolle spielte wohl eine spezifisch­e Fertigkeit der ehemaligen Steppennom­aden: der gekonnte Umgang mit Pferd und Wagen. Die Verkehrste­chnik, mit der sich ganze Clans über größere Distanzen bewegen konnten, ist auch ein wichtiges Argument für einen interessan­ten Gedanken Haarmanns – dass die Ausbreitun­g des Indoeuropä­ischen auch eine Art frühe Globalisie­rung darstelle.

Heute sind indoeuropä­ische Sprachen in der ganzen Welt verbreitet, vom Nordkap bis Kapstadt, von der Kamtschatk­a bis Patagonien. Zwei Drittel der Weltbevölk­erung sprechen eine indoeuropä­ische Sprache (zumindest als Zweit- oder Verkehrssp­rache): ein Erbe Europas, wohl auch noch in Zeiten, wenn Europa selbst vielleicht nur mehr eine Marginalie auf der Weltkarte sein wird. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

Newspapers in German

Newspapers from Austria