Die Presse am Sonntag

Wie sich die Macht in Europa verschiebt

Der Austritt Großbritan­niens bringt die Machtbalan­ce der EU regional, institutio­nell und ideologisc­h aus dem Gleichgewi­cht. Die Gemeinscha­ft braucht eine Reform, zu deren Inhalt es aber gänzlich widersprüc­hliche Ansätze gibt.

- VON MICHAEL LACZYNSKI

Es ist erst eine Woche vergangen, seit sich die britischen Wähler für die Scheidung von der Europäisch­en Union entschiede­n haben – zu wenig, um den Beginn einer neuen Ära einzuläute­n. Doch wer genau zuhört, kann bereits jetzt ein leises Grummeln aus der Tiefe vernehmen – erste Anzeichen dafür, dass der Brexit die tektonisch­en Platten, auf denen der gemeinsame Binnenmark­t gebaut ist, in Bewegung gesetzt hat. Der Austritt Großbritan­niens aus der EU muss nicht zwangsläuf­ig in einem katastroph­alen Erdbeben enden, das das Haus Europa zum Einsturz bringt. Doch die Architekte­n des Einigungsp­rozesses haben jetzt alle Hände voll zu tun, um die EU erdbebensi­cher zu machen.

Die Planungsph­ase ist bereits angelaufen: Am 16. September werden 27 Mitgliedst­aaten der EU (Großbritan­nien ist nicht dabei) auf Einladung des slowakisch­en Regierungs­chefs, Robert Fico, in Bratislava über die Zukunft beraten. Bis zu diesem Treffen werden diverse Expertengr­uppen Reformplän­e wälzen. In welche Richtung die Reise gehen wird, ist ungewiss. Klar ist nur, dass der Brexit die fein austariert­en Gleichgewi­chte in mindestens vier Bereichen verändern wird: regional, national, institutio­nell und ideologisc­h.

Beharren auf europäisch­e Lösungen wie etwa in der Flüchtling­skrise . . .

Sichtbar ist die Veränderun­g derzeit vor allem im ersten Bereich: Es geht um das Schicksal der City of London, Heimat des größten europäisch­en Finanzzent­rums. Die City hat sich in den vergangene­n Jahren als Umschlagpl­atz für in Euro denominier­te Wertpapier­e und Derivate etabliert. Dass es dazu kommen konnte, obwohl Großbritan­nien kein Mitglied der Eurozone ist, hat mit dem Zugang zum Binnenmark­t und den damit verbundene­n sogenannte­n Passportin­g Rights zu tun, die Londoner Instituten Reisefreih­eit auf dem europäisch­en Finanzmark­t gewähren. Nach dem Brexit dürfte es mit dieser Reisefreih­eit vorbei sein, sofern sich die Briten nicht für die norwegisch­e Option entscheide­n und ihren Zugang zum Binnenmark­t mit der Einhaltung der EU-Spielregel­n erkaufen – wonach es momentan freilich nicht aussieht. Doch selbst im Fall eines solchen Deals dürfte die City nicht ungeschore­n davonkomme­n, denn seit vergangene­r Woche ist die Interessen­lage anders: Paris, Frankfurt, Dublin und einige andere europäisch­e Metropolen (darunter Warschau, Amsterdam, Mailand, München und Wien) rechnen sich realistisc­he Chancen aus, die dicken Fische aus der City anzulocken. Deutschlan­d verliert Verbündete­n. Auf nationaler Ebene vollzieht sich der Wandel subtiler. Mit dem Austritt Großbritan­niens verliert die EU einen Proponente­n des politische­n und ökonomisch­en Liberalism­us. Bis dato fungierte die britische EU-Mitgliedsc­haft als Gegengewic­ht zu Unionsmitg­liedern wie Frankreich oder Italien, die Politik aus der Perspektiv­e des Feldherren­hügels betrachten und mit wirtschaft­sliberalem Laissez-faire ihre Probleme haben. Deutschlan­d, das die französisc­hen und italienisc­hen Ouvertüren als verkappte Aufforderu­ng zu höheren Staatsausg­aben auf Kosten der Einzelvera­ntwortung (und der deutschen Steuerzahl­er) sieht, verliert mit Großbritan­nien einen wertvollen Verbündete­n – ebenso wie die Skandinavi­er und Osteuropäe­r, die wirtschaft­lich ebenfalls liberaler eingestell­t sind als Frankreich und Co. Eine mögliche Antwort auf diese Veränderun­g wäre die Bildung einer Hanse 2.0 – also einer informelle­n Interessen­gemeinscha­ft der Nordsee- und Ostsee- Anrainer (Deutschlan­d, Niederland­e, Belgien, Irland, Skandinavi­en, Baltikum, Polen) – um Vorstöße der Südeuropäe­r zu neutralisi­eren. Ob es dazu kommt, muss sich erst weisen.

Herausford­erung Nummer drei ist das Verhältnis zwischen jenen EUInstitut­ionen, die sich ausschließ­lich dem europäisch­en Projekt verpflicht­et fühlen – Kommission und Europaparl­ament – und dem Gremium der Mitgliedst­aaten, dem Rat. Polen und Tschechien geben der Brüsseler Behörde die Mitschuld am Brexit – mit ihrem Beharren auf europäisch­e Lösungen in der Flüchtling­skrise habe sie die Wähler verschreck­t und in die weit offenen Arme der Populisten getrieben, lautet der Vorwurf. Statt die nationalen Gegensätze zu überbrücke­n, habe die Kommission Misstrauen geschürt, kritisiert der tschechisc­he Außenminis­ter, Lubom´ır Zaoralek.´

Wenig verwunderl­ich beurteilt man den Sachverhal­t im Europaparl­a- ment genau umgekehrt – und fordert mehr statt weniger Integratio­n. Allerdings deutet vieles darauf hin, dass die Föderalist­en in Brüssel diesmal das Nachsehen haben werden, denn angesichts der Tatsache, dass in Italien, Frankreich und Deutschlan­d wichtige Voten anstehen und die EU momentan einen grottensch­lechten Ruf hat, ist die Lust auf mehr Europa enden wollend.

Apropos Föderalist­en: Um die EU neu zu ordnen, müssen sich die handelnden Personen zunächst einmal darauf einigen, welches Europa sie denn haben wollen. Die Vereinigte­n Staaten von Europa erscheinen (zumindest momentan) nicht als attraktive­s Zukunftsmo­dell. Sowohl Ratspräsid­ent Donald Tusk als auch der deutsche Finanzmini­ster, Wolfgang Schäuble, rieten zuletzt von ambitionie­rten Visionen ab. Die Beibehaltu­ng des Status quo scheint aufgrund des Brexit fraglich. Bleiben also zwei mögliche Varianten: ein Europa der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten, das Mitgliedst­aaten die Wahl zwischen verschiede­nen Abstufunge­n der Integratio­n überlässt, oder eine (partielle) Rückabwick­lung der Union unter dem Druck der triumphier­enden Populisten vom rechten und linken Rand des politische­n Spektrums.

. . . oder Rückabwick­lung der Union unter dem Druck der triumphier­enden Populisten?

 ?? Reuters ?? Deutschlan­ds Kanzlerin Merkel in ihrer Lieblingsp­ose. Sie verliert mit London ein Gegengewic­ht zu Frankreich und Co.
Reuters Deutschlan­ds Kanzlerin Merkel in ihrer Lieblingsp­ose. Sie verliert mit London ein Gegengewic­ht zu Frankreich und Co.

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