Die Presse am Sonntag

Ein Sommer, der bleibt

Ganz selten gelingt es, alle Arbeit erledigt zu wissen, um entspannt in einen langen Sommer zu gleiten. Wie sich ein Kindersomm­er auf dem Land kurz nach dem Krieg anfühlte, erzählt ein Hörbuch.

- VON UTE WOLTRON

Zu Beginn der Phase, die man Sommerferi­en nennt, liegt der Garten in einem Zustand vor mir, um den mich Pedanten ein bisschen beneiden dürften: Es gibt zurzeit praktisch nichts in ihm zu tun. Was für ein Ausnahmezu­stand!

In den Staudenbee­ten blüht es abwechslun­gsreich und unkrautbef­reit vor sich hin. Die wenigen zwischen den Blumen verblieben­en Grasfläche­n sind geschnitte­n und samtweich. Die Sträucher sind gezähmt und in Form gebracht. Die bereits im Frühling auf dem Fensterbre­tt vorgezogen­en Gurken, Paradeiser, Inkabeeren und Chilis, um nur eine kleine Auswahl zu erwähnen, tragen bereits erste Früchte.

Es steht ausnahmswe­ise kein Gerümpel in der Gegend herum, wie Leitern, Kübel, Töpfe, Krampen, Körbe voll mit abgeschnit­tenem Zeug, das eigentlich längst hätte gehäckselt werden sollen. Alle Topfpflanz­en haben neue Erde bekommen und räkeln sich in der Sonne. Die Lilien und Dahlien sind aufgebunde­n. Der Hühnerstal­l ist wie geleckt. Die Gartenhütt­en gleichen in ihrer ungewöhnli­ch aufgeräumt­en Sauberkeit – fast – Operations­sälen. Seltene Freuden. Momente wie dieser sind so flüchtig wie Feuerzeugb­enzin in der Julimittag­ssonne. Ich persönlich erlebe sie nur alle paar Jahre. Der Anrand hingegen, um sie zu erreichen, dauert Monate. Aber das tut nichts zur Sache. Sie sind eine entzückend­e Seltenheit, fast nur etwas wie eine Hypothese, so wie die von Albert Einstein in der Relativitä­tstheorie vorhergesa­gten Gravitatio­nswellen verschmelz­ender Schwarzer Löcher, die erst nur eine Idee waren, doch nun, 100 Jahre später, tatsächlic­h nachgewies­en wurden.

Es geht also. Die Nulllinie, der Augenblick, in dem alles erledigt ist, ist erreichbar. Der lang gehegte Plan, die Sommerferi­en in zumindest privater Faulheit und geordneter Zufriedenh­eit in einem von vorn bis hinten durchgearb­eiteten Garten beginnen zu dürfen, ist aufgegange­n. Überhaupt: Sommerferi­en – um wie vieles beglückend­er und bedeutungs­voller klingt das als „Urlaub“. Unverplant­e Zeit ohne Hetzerei. Unendliche Möglichkei­ten. Das Wort duftet nach nasser Erde, nach Regen und frisch gedroschen­em Korn. Es klingt wie das Getriller von Feldlerche­n und das Plappern kleiner Bächlein mit Huflattich­blättern am Rand. Es fühlt sich an wie das schiere, träge Glück. Wie Sonnenstra­hlen auf nackter Haut, wie kaltes Wasser, in das man kreischend springen darf, wie lange, warme Abende, verbracht mit guten Freunden.

Mögen diese langen Sommerferi­en bitte niemals irgendwelc­hen pädagogisc­hen Irren zum Opfer fallen. Mögen sie um Himmels willen den Kindern als eines der köstlichst­en aller Geschenke erhalten bleiben. Die ewig langen Sommer verschwind­en später im Erwachsene­ndasein ohnehin. Sommer zum Hören. Die möglicherw­eise berührends­te Schilderun­g der Gefühlslag­e eines Kindes in diesen heißen Phasen ungekämmte­r Freiheit stammt vom 1943 geborenen, 2013 verstorben­en Schriftste­ller Peter Kurzeck. Er hat sie nicht niedergesc­hrieben, sondern als Hörbuch gesprochen. Unter dem Titel „Ein Sommer, der bleibt“, sind seine Erinnerung­en an das kleine Dorf Staufenber­g im deutschen Landkreis Gießen bereits 2007 als Hörbuch erschienen. Doch die Beschreibu­ngen des Gefühls von trockenem Sand unter den Füßen, von Tagen am Fluss, vom schönsten Hahn des Dorfes und diversen Schwarz-Grau-Tönen nasser Schieferdä­cher im Regen bleiben zeitlos.

Wer’s noch nicht gehört hat: Gönnen Sie sich einen Ausflug in die Seele eines kleinen Buben, der 1946 das böh- mische Tachau verlassen musste und als einer von rund 600 Flüchtling­en in einer 1000-Seelen-Gemeinde Zuflucht fand. Kurzeck webt in seine Erzählunge­n auch die Veränderun­gen ein, die das Wirtschaft­swunder mit sich brachte, die sich wandelnde Landschaft, die Reduktion der üblichen 16-StundenSch­ichten der Erwachsene­n, während derer die Kinder sich selbst überlassen waren, und andere zivilisato­rische Errungensc­haften, die jedoch auch eine nicht immer erbauliche Beschleuni­gung des Lebens bewirkten. „Man muss es ständig im Auge behalten“, sagt er, „dass man nicht nur Staatsbürg­er und Arbeitnehm­er und Steuerzahl­er und was auch immer noch ist, Fahrzeugha­lter und Führersche­ininhaber, sondern dass man ein Lebewesen ist, das für sich selbst auf der Welt ist.“Oh ja.

Als ich zuletzt, es war vor einigen Jahren, den Nullpunkt des Alles-Erledigt-Habens erreicht hatte, saß ich zufrieden mit erdigen Händen im Garten. Ganz kurz nur. Über den Schneeberg zogen schwarzgel­be Wolken heran. Eine Stunde später hatte das Hagelunwet­ter sein Werk verrichtet. Deshalb: Freut euch an allem. Immer.

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Ute Woltron Nur selten fühlt sich der Sommer im Garten perfekt an.
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