Die Presse am Sonntag

Im Island-Modus: Nicht sitzen oder ruhen – laut schreien!

Die Insel im Nordatlant­ik ist im Fußballfie­ber: Styrmir G´ıslason, Chef der Fangruppe Tolfan, erklärt das Phänomen der Trommler und Tänzer der Wikinger.

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Reykjav´ık. Natürlich, Island hat bei dieser Fußball-EM nun Lust auf mehr bekommen. Die Insel ist in Euphorie, die Fußballer werden wie Superstars angehimmel­t – und auch Styrmir G´ıslason hält das Kribbeln nicht mehr aus. In der Nacht vor seinem Flug nach Paris zum EM-Viertelfin­ale gegen Frankreich bekam der Isländer kein Auge zu. „Ich kann es nicht erwarten zurückzuko­mmen“, sagt er. Bei allen Spielen bis auf das Achtelfina­le gegen England hat der Gründer der Fangruppe Tolfan seine Mannschaft im Stadion angefeuert. Jetzt will er Island mit den anderen Fans ins Halbfinale brüllen. Schafft der Zwerg heute, 21 Uhr, im Stade de France die nächste Sensation?

Allerdings, wenn es nach G´ıslason geht: „Frankreich hat auf dem Papier die großen Namen und all das. Aber ich denke, es kommt auf das Herz und den Willen an. Und der ist auf der Seite der Isländer.“Um ihre Spieler live zu sehen, hoffen etliche seiner Landsleute, noch ein Flugticket nach Frankreich zu ergattern. Dafür nehmen manche nicht nur horrende Ticketprei­se in Kauf, sondern auch Odysseen quer durch Europa mit stundenlan­gen Wartezeite­n auf diversen Flughäfen. Andere hatten Glück: Koch Sveinn Saevar Frimansson aus Akureyri ergatterte 2015 Tickets für genau dieses Viertelfin­ale. Der Fußball sollte nur Nebensa- che sein. „Mein Hauptanlie­gen war, den Ursprung der Bearnaise-Sauce zu finden und in dem Restaurant in Paris zu essen, wo sie zuerst serviert wurde . . .“Die Sauce ist jetzt nicht mehr von Belang. »Hu! Hu! Hu!« Auch G´ıslason, 37, ist ein Platz im Stadion sicher. Islands Fluglinien spendieren ihm und 21 anderen Tolfans nicht nur die Flüge, sondern auch Hotels – ohne die wilden Trommler wäre in der Island-Kurve ja nichts los. 8000 Isländer werden im Stadion sein, Lärm machen werden sie wie 80.000. „Das Motto von Tolfan ist: Wir sitzen nie, wir ruhen nie“, sagt G´ıslason. „Wir schreien 90 Minuten lang. Da steckt der Wikinger in uns. Nachdem wir damit angefangen haben, hat das Team fantastisc­h gespielt.“

Der Mann, der mit seinem strubbelig­en Vollbart und den Tätowierun­gen bei dem Wikinger-Siegesritu­al („Hu! Hu! Hu!“) den Ton angibt, ist einer von vielen Gründen, weshalb die Isländer die Herzen der EM-Zuschauer in den vergangene­n Wochen im Sturm erobert haben. Zwei andere sind der sensatione­lle Kampfgeist und das Selbstvert­rauen der Fußballzwe­rge. „Das ist das Verrückte an uns“, sagt G´ıslason. „Wir denken nie, dass wir die kleine Nation sind, die verlieren wird. Wir denken immer, dass wir gewinnen.“

Nach dem Achtelfina­lsieg gegen England hat das EM-Fieber jeden auf der Nordatlant­ikinsel gepackt. Den Laden in Reykjav´ık, in dem G´ıslason in diesen Tagen ausschließ­lich im blauen Island-Trikot arbeitet, betritt kein Kunde ohne ein Lächeln auf dem Gesicht.

Egal, wie die Partie heute ausgeht, einen Gewinner gibt es schon: den Tourismusv­erband. Das EM-Märchen der unbesiegba­ren Wikinger hat eine Reisewelle in Gang gesetzt. Vergessen sind Vulkane, Wirtschaft­skrise und Kälte – der EM-Titel scheint zum Grei- fen nah und da will eben jeder, um jeden Preis, dabei sein.

Am Montag aufzuwache­n und ausgeschie­den zu sein, wäre deshalb für jeden Tolfan besonders bitter. Dass ihr Märchen damit aber zu Ende wäre, das glaubt keiner. „Das ist wieder der isländisch­e Wahnsinn: Wir gehen davon aus, dass wir, jetzt, da wir es einmal geschafft haben, immer wieder schaffen können“, sagt G´ıslason. „Die Leute fangen schon an zu überlegen: Wo werden wir bei der Fußball-WM in Russland spielen?“

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