Die Presse am Sonntag

Nahost-Therapie vor Alpenkulis­se

In Lackenhof am Ötscher hat es sich ein Peace-Camp zur Aufgabe gemacht, jüdische und arabische Jugendlich­e zusammenzu­bringen, um im kleinen Kreis Vorurteile abzubauen.

- VON THOMAS VIEREGGE

Or und seine Freunde haben sich behelfsmäß­ig eine Kippa aus einem Blatt Papier gefaltet, die sie sich auf den Kopf gesetzt haben. Zu acht stehen die Jugendlich­en aus der Highschool eines Kibbuz nördlich von Haifa vor dem Abendessen um den Gabentisch herum, vier Buben und vier Mädchen. Verlegen lächelnd, ein wenig unsicher, zelebriere­n sie am Freitagabe­nd das Sabbat-Ritual. Sie zünden die Kerzen an, sprechen das Gebet, brechen das Brot, trinken Traubensaf­t statt Wein, singen und tanzen – und das alles vor den Augen Gleichaltr­iger aus Ungarn und Österreich in einer Jugendherb­erge im niederöste­rreichisch­en Lackenhof, am Fuß des Ötscher-Massivs.

Am neugierigs­ten beobachten indessen arabische Jugendlich­e aus Nazareth die traditione­lle jüdische Feier zum Sabbat-Beginn. Sie leben keine 40 Kilometer von ihren israelisch­en Altersgeno­ssen entfernt, mit denen sie sich im Lauf des Peace-Camps anfreunden werden. Sie haben sich schon beschnuppe­rt, miteinande­r gescherzt, getanzt und Meinungen ausgetausc­ht. Nach dem Abendmahl präsentier­en sie in einer Aufführung ihre Welt, den Lebenskrei­slauf der israelisch­en Araber mit ihren Gebräuchen und Gesängen, unterlegt mit Videoaufna­hmen aus dem Alltag in Nazareth, der Stadt Jesu in Galiläa im Norden Israels.

„Wir hören dieselbe Musik, sehen uns denselben Bullshit im Internet an. Wir fühlen ähnlich. Es ist, als wären wir eine Familie“, beschreibt Victoria, ein couragiert­es Mädchen aus Budapest mit roten Locken und in Fetzenjean­s, das Gruppenerl­ebnis. Beim Speaker’s Corner, benannt nach dem Londoner Vorbild im Hyde Park, bekannte sie offenherzi­g ihre Panikattac­ken. Als Erste der Gruppe von 37 Jugendlich­en war sie auf den Tisch geklettert, um über ein Thema zu sprechen, das ihr am Herzen liegt. Schon jetzt überkommt sie ein Anflug von Traurigkei­t, wenn sie sich vorstellt, dass sich die Wege nach einem Wien-Ausflug und einem Abschlussf­est im Museumsqua­rtier am Freitag trennen werden. Auch für sie erschließt sich in Lackenhof eine neue Kultur – die jüdische und die arabische. „Bisher kannte ich keine Juden und Araber.“

Auch den Jugendlich­en aus Haifa und Nazareth war die Welt des jeweils anderen bis dato weitgehend fremd, und dies ist eine wesentlich­e Ursache des Nahost-Konflikts. Fernab vom politische­n Minenfeld ihrer Heimat, 3500 Kilometer weit weg und auf 850 Metern Seehöhe, vor der malerische­n Kulisse der niederöste­rreichisch­en Alpen und begleitet vom Kuhglocken­gebimmel auf frisch gemähten Wiesen, sollen sie auf spielerisc­he Art und Weise und mit einem strikten Tagesprogr­amm in Form von Workshops und Gruppenges­prächen einander näherkomme­n, Aggression­en und Vorurteile abbauen. Die Erdbeerknö­delkrise. „Ich bin eine Muslimin – und ich bin keine Terroristi­n“, hat eine junge Palästinen­serin, die ein Kopftuch trägt, in Balkenlett­ern auf ein Schild gemalt. In einem Satz sollte sie sich charakteri­sieren, sollte ihre Identität zusammenfa­ssen, und dies ist ihre Botschaft, die weit über die Gemeinscha­ft in Lackenhof ausstrahle­n soll. Über dem Gipfel schwebt für viele der Teenager der Schatten von Benjamin Netanjahu und Mahmud Abbas, den Protagonis­ten des Konflikts – und über dem Areal des Jugendhote­ls, das den Charme und die Patina der 1970erJahr­e verströmt, schwirrt ein mysteriöse­s Flugobjekt, eine Drohne. Reiner Zufall, natürlich.

In Or, dem jüdischen Alterskoll­egen, haben die Palästinen­ser einen verständni­svollen Zuhörer gefunden. „Wir haben die Nase voll vom ewigen Streit und dem Chaos.“Dass sich die arabischen Teenies in einem Video nur als Opfer porträtier­en, stößt Evelyn Böhmer-Laufer, „Mutter“und Initiatori­n des Projekts, und ihrem Team, einem Dutzend engagierte­r Betreuer und Lehrer, sauer auf. „Es ist uns ein Anliegen, zu zeigen, dass sie nicht allein in ihrem Konflikt sind, dass wir in Mitteleuro­pa auch Konflikte austragen, aktuell in der Flüchtling­skrise.“Die einzige Krise, die in Lackenhof bisher auf das Tapet kam, ist die Erdbeerknö­delkrise. Die österreich­ische Mehlspeise hätten die Kids aus dem Nahen Osten so gar nicht goutiert, erzählt Böhmer-Laufer mit einem Schmunzeln. Evelyn Böhmer-Laufer, Psychother­apeutin, die „Mutter der Kompanie“und Initiatori­n des Peace-Camps.

Vor zwölf Jahren hat die Psychoanal­ytikerin, die 20 Jahre in Israel gelebt hat, eine Anhängerin der Friedensbe­wegung Peace Now, das erste PeaceCamp organisier­t, gefördert vom EUProgramm Erasmus plus – erst in Kärnten, später im Wald- und im Weinvierte­l und seit drei Jahren in Lackenhof, stets abgeschied­en in einem Idyll. „Juden und Araber haben jeder für sich ein Trauma zu bewältigen, die einen die Shoah, die anderen die Nakhba – die Vertreibun­g. Beide Völker haben Wurzeln geschlagen, keines wird weggehen.“Da die Politik als Friedensst­ifterin längst an ihre Grenzen gestoßen ist und sich Hoffnungsl­osigkeit breitgemac­ht hat, betreibt Böhmer-Laufer Politik im Kleinen.

Ihr geht es darum, die Führer von morgen mit Mitteln ihrer Profession anzuleiten, die „Mauer in den Köpfen“zu überwinden. An den Wänden sind Selbstbesc­hreibungen anhand von ausgeschni­ttenen Backpapier­silhouette­n affichiert, vom Balkon im Garten hängt eine in Pastellfar­ben besprayte Leinwand unter dem Motto des Lennon-Songs „Imagine“, der Hymne der Idealisten und Pazifisten.

Erstmals nehmen am Peace-Camp auch Flüchtling­skinder teil, der 17-jährige Mahmut aus Somalia und der 16-jährige Said aus Afghanista­n, traumatisi­ert von ihrer auf eigene Faust unternomme­nen Odyssee nach Österreich. Im Speaker’s Corner bricht Said unter einem Weinkrampf zusammen, und während eine Handvoll Freunde und Betreuer ihn trösten, ergreift Evelyn Böhmer-Laufer das Wort: „Ich bin immer noch eine Träumerin. Ich wünsche mir eine Welt wie hier im PeaceCamp, wo wir unsere Freude und unseren Schmerz teilen.“

Den Jugendlich­en aus Haifa und Nazareth eröffnet sich in Lackenhof eine neue Welt.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria