Nahost-Therapie vor Alpenkulisse
In Lackenhof am Ötscher hat es sich ein Peace-Camp zur Aufgabe gemacht, jüdische und arabische Jugendliche zusammenzubringen, um im kleinen Kreis Vorurteile abzubauen.
Or und seine Freunde haben sich behelfsmäßig eine Kippa aus einem Blatt Papier gefaltet, die sie sich auf den Kopf gesetzt haben. Zu acht stehen die Jugendlichen aus der Highschool eines Kibbuz nördlich von Haifa vor dem Abendessen um den Gabentisch herum, vier Buben und vier Mädchen. Verlegen lächelnd, ein wenig unsicher, zelebrieren sie am Freitagabend das Sabbat-Ritual. Sie zünden die Kerzen an, sprechen das Gebet, brechen das Brot, trinken Traubensaft statt Wein, singen und tanzen – und das alles vor den Augen Gleichaltriger aus Ungarn und Österreich in einer Jugendherberge im niederösterreichischen Lackenhof, am Fuß des Ötscher-Massivs.
Am neugierigsten beobachten indessen arabische Jugendliche aus Nazareth die traditionelle jüdische Feier zum Sabbat-Beginn. Sie leben keine 40 Kilometer von ihren israelischen Altersgenossen entfernt, mit denen sie sich im Lauf des Peace-Camps anfreunden werden. Sie haben sich schon beschnuppert, miteinander gescherzt, getanzt und Meinungen ausgetauscht. Nach dem Abendmahl präsentieren sie in einer Aufführung ihre Welt, den Lebenskreislauf der israelischen Araber mit ihren Gebräuchen und Gesängen, unterlegt mit Videoaufnahmen aus dem Alltag in Nazareth, der Stadt Jesu in Galiläa im Norden Israels.
„Wir hören dieselbe Musik, sehen uns denselben Bullshit im Internet an. Wir fühlen ähnlich. Es ist, als wären wir eine Familie“, beschreibt Victoria, ein couragiertes Mädchen aus Budapest mit roten Locken und in Fetzenjeans, das Gruppenerlebnis. Beim Speaker’s Corner, benannt nach dem Londoner Vorbild im Hyde Park, bekannte sie offenherzig ihre Panikattacken. Als Erste der Gruppe von 37 Jugendlichen war sie auf den Tisch geklettert, um über ein Thema zu sprechen, das ihr am Herzen liegt. Schon jetzt überkommt sie ein Anflug von Traurigkeit, wenn sie sich vorstellt, dass sich die Wege nach einem Wien-Ausflug und einem Abschlussfest im Museumsquartier am Freitag trennen werden. Auch für sie erschließt sich in Lackenhof eine neue Kultur – die jüdische und die arabische. „Bisher kannte ich keine Juden und Araber.“
Auch den Jugendlichen aus Haifa und Nazareth war die Welt des jeweils anderen bis dato weitgehend fremd, und dies ist eine wesentliche Ursache des Nahost-Konflikts. Fernab vom politischen Minenfeld ihrer Heimat, 3500 Kilometer weit weg und auf 850 Metern Seehöhe, vor der malerischen Kulisse der niederösterreichischen Alpen und begleitet vom Kuhglockengebimmel auf frisch gemähten Wiesen, sollen sie auf spielerische Art und Weise und mit einem strikten Tagesprogramm in Form von Workshops und Gruppengesprächen einander näherkommen, Aggressionen und Vorurteile abbauen. Die Erdbeerknödelkrise. „Ich bin eine Muslimin – und ich bin keine Terroristin“, hat eine junge Palästinenserin, die ein Kopftuch trägt, in Balkenlettern auf ein Schild gemalt. In einem Satz sollte sie sich charakterisieren, sollte ihre Identität zusammenfassen, und dies ist ihre Botschaft, die weit über die Gemeinschaft in Lackenhof ausstrahlen soll. Über dem Gipfel schwebt für viele der Teenager der Schatten von Benjamin Netanjahu und Mahmud Abbas, den Protagonisten des Konflikts – und über dem Areal des Jugendhotels, das den Charme und die Patina der 1970erJahre verströmt, schwirrt ein mysteriöses Flugobjekt, eine Drohne. Reiner Zufall, natürlich.
In Or, dem jüdischen Alterskollegen, haben die Palästinenser einen verständnisvollen Zuhörer gefunden. „Wir haben die Nase voll vom ewigen Streit und dem Chaos.“Dass sich die arabischen Teenies in einem Video nur als Opfer porträtieren, stößt Evelyn Böhmer-Laufer, „Mutter“und Initiatorin des Projekts, und ihrem Team, einem Dutzend engagierter Betreuer und Lehrer, sauer auf. „Es ist uns ein Anliegen, zu zeigen, dass sie nicht allein in ihrem Konflikt sind, dass wir in Mitteleuropa auch Konflikte austragen, aktuell in der Flüchtlingskrise.“Die einzige Krise, die in Lackenhof bisher auf das Tapet kam, ist die Erdbeerknödelkrise. Die österreichische Mehlspeise hätten die Kids aus dem Nahen Osten so gar nicht goutiert, erzählt Böhmer-Laufer mit einem Schmunzeln. Evelyn Böhmer-Laufer, Psychotherapeutin, die „Mutter der Kompanie“und Initiatorin des Peace-Camps.
Vor zwölf Jahren hat die Psychoanalytikerin, die 20 Jahre in Israel gelebt hat, eine Anhängerin der Friedensbewegung Peace Now, das erste PeaceCamp organisiert, gefördert vom EUProgramm Erasmus plus – erst in Kärnten, später im Wald- und im Weinviertel und seit drei Jahren in Lackenhof, stets abgeschieden in einem Idyll. „Juden und Araber haben jeder für sich ein Trauma zu bewältigen, die einen die Shoah, die anderen die Nakhba – die Vertreibung. Beide Völker haben Wurzeln geschlagen, keines wird weggehen.“Da die Politik als Friedensstifterin längst an ihre Grenzen gestoßen ist und sich Hoffnungslosigkeit breitgemacht hat, betreibt Böhmer-Laufer Politik im Kleinen.
Ihr geht es darum, die Führer von morgen mit Mitteln ihrer Profession anzuleiten, die „Mauer in den Köpfen“zu überwinden. An den Wänden sind Selbstbeschreibungen anhand von ausgeschnittenen Backpapiersilhouetten affichiert, vom Balkon im Garten hängt eine in Pastellfarben besprayte Leinwand unter dem Motto des Lennon-Songs „Imagine“, der Hymne der Idealisten und Pazifisten.
Erstmals nehmen am Peace-Camp auch Flüchtlingskinder teil, der 17-jährige Mahmut aus Somalia und der 16-jährige Said aus Afghanistan, traumatisiert von ihrer auf eigene Faust unternommenen Odyssee nach Österreich. Im Speaker’s Corner bricht Said unter einem Weinkrampf zusammen, und während eine Handvoll Freunde und Betreuer ihn trösten, ergreift Evelyn Böhmer-Laufer das Wort: „Ich bin immer noch eine Träumerin. Ich wünsche mir eine Welt wie hier im PeaceCamp, wo wir unsere Freude und unseren Schmerz teilen.“
Den Jugendlichen aus Haifa und Nazareth eröffnet sich in Lackenhof eine neue Welt.