Wenn die Wohlhabenden auswandern
Noch nie haben so viele Chinesen ihr Land verlassen wie im vergangenen Jahr – auch als Touristen.
Ende der Siebzigerjahre beklagte USPräsident Jim Carter während eines Treffens mit Chinas damaligem Machthaber, Deng Xiaoping, die fehlende Reisefreiheit in der noch weitgehend abgeriegelten Volksrepublik. Deng antwortete: „Gut, wer gehen will, soll gehen“und fügte schnippisch hinzu: „Sind Sie wirklich auf zehn Millionen Chinesen vorbereitet?“
Aus den damals von Deng prognostizierten zehn Millionen sind inzwischen hundert Millionen geworden. Nach Angaben des Nationalen Statistikamtes haben noch nie so viele Chinesen das Land zumindest zeitweise verlassen wie im vergangenen Jahr. 2016 dürfte die Zahl nochmals zulegen. Bis 2020 soll sich die Zahl Expertenschätzungen zufolge auf bis zu 200 Millionen verdoppeln. Die große Masse besteht aus Touristen, die sich angesichts des wachsenden Wohlstands in China einen Urlaub im Ausland leisten können. Doch auch die Zahl der Ausreisewilligen, die auf Dauer der Volksrepublik den Rücken kehren, erreicht neue Höchstwerte. Staatsmedien zufolge haben 2015 über zehn Millionen Chinesen ihr Heimatland verlassen.
Die meisten Auswanderwilligen gehören zu den Wohlhabenden im Land. Aus einer Umfrage des privaten Shanghaier Hurun-Instituts geht hervor: 64 Prozent aller Chinesen, die über mehr als 1,6 Millionen Dollar verfügen, planen ihre Emigration oder sind bereits ausgewandert. Als Gründe nennen die meisten von ihnen Chinas extreme Umweltverschmutzung, mangelndes Vertrauen in die staatliche Lebensmittelsicherheit und das miserable Bildungssystem. Viele Chinesen haben auch wenig Vertrauen in das politische System: Dank der rasanten Wirtschaftsentwicklung fürchten sie, der neue Wohlstand könnte ihnen wieder genommen werden. Der Kapitalabfluss aus der Volksre- publik machte im vergangenen Jahr mehr als drei Prozent der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung aus. Bevorzugtes Einwanderungsland reicher Chinesen sind die USA.
Bei der zweitgrößten Gruppe derer, die für längere Zeit oder für immer ihr Land verlassen, handelt es sich um Studenten und Schüler. An amerikanischen Universitäten kommen die meisten Ausländer aus China. Ihre Zahl liegt inzwischen bei knapp einer Viertelmillion. In England sind inzwischen etwa so viele Chinesen für einen Masterstudiengang eingeschrieben wie Briten.
Die chinesische Führung unterstützt diese Entwicklung: Sollen ruhig die Amerikaner und Europäer Chinas künftige Elite ausbilden. Schon damals lautete die Devise von Deng Xiaoping: Selbst wenn nur ein Zehntel von ihnen zurückkommt oder zumindest der Volksrepublik verbunden bleibt, sei der Nutzen für China ausreichend.