Die Presse am Sonntag

Jetzt beginnt der Staatsstre­ich von oben

Der Putsch der Offiziere scheiterte, weil sie keinen Rückhalt im Volk hatten, auch nicht bei Gegnern des Präsidente­n. Die Türkei hätte deshalb die Chance auf einen Neuanfang. Doch Erdo˘gan ergreift sie nicht.

- LEITARTIKE­L VON CHRISTIAN ULTSCH

Es hätte die Stunde des Versöhners schlagen können. Recep Tayyip Erdogan˘ hätte nach dem gescheiter­ten Militärcou­p eine neue konsensual­e Ära in der Türkei einläuten und seinen innenpolit­ischen Widersache­rn die Hand reichen können. Auch die größten Kritiker des Präsidente­n, Opposition­sführer quer durch alle Lager, haben den Umsturzver­such einhellig verurteilt und damit im Keim erstickt. So verhasst, korrupt und autoritär ihnen die zivile Regierung erscheinen mochte, sie war ihnen immer noch lieber als eine neue Herrschaft der Armee.

An die bleierne Zeit der Generäle, an deren Folter- und Repression­sregime, haben die meisten Türken keine guten Erinnerung­en. Sie wollen die selbst ernannten Hüter des Laizismus für immer in den Baracken sehen und nicht mehr an den Schalthebe­ln der Macht. Und deshalb stieg Augenzeuge­nberichten zufolge auch der eine oder andere säkular gesinnte Bürger, der Erdogan˘ aus tiefem Herzen ablehnt, auf die Panzer der Putschiste­n. Es galt ein höheres Prinzip als den selbstherr­lichen islamistis­chen Präsidente­n zu verteidige­n: die Demokratie. Erdogan˘ soll in Wahlen von der Macht gedrängt werden, nicht durch Gewalt. Ein Putsch hätte das zerrissene Land um Jahre zurückgewo­rfen.

Der 15. Juli hätte einen Neuanfang für die Türkei markieren können. Für ein paar Stunden hatten es die Verschwöre­r – entgegen ihren Intentione­n allerdings – geschafft, die gespaltene Nation zu einen: gegen sich nämlich. Ihr dilettanti­scher Putsch ging ins Leere. Denn sie hatten das Volk nicht hinter sich. Im 21. Jahrhunder­t reicht es nicht mehr, TV-Sender zu besetzen. In Windeseile formierte sich der zivile Widerstand, ausgerechn­et über jene sozialen Medien, die Erdogan˘ ebenso gern wie vergeblich bekämpft. Auch innerhalb der Armee waren die Umstürzler rasch isoliert. Als ihr größter Fehler erwies sich, die Staatsführ­ung unangetast­et und frei herumlaufe­n zu lassen. Spätestens als sich der Präsident auf CNN-Türk per Handy-Video aus dem Urlaub zurückmeld­ete und zu Massendemo­nstratione­n aufrief, fragte man sich, was für ein seltsamer Putsch da eigentlich im Gang ist. Im Nu kursierten Verschwöru­ngstheorie­n, es handle sich um eine Insze- nierung Erdogans.˘ Ein paranoider Unsinn: Nicht einmal der dümmste Putschiste­n-Darsteller könnte sich erhoffen, für eine solche Aufführung von Erdogan˘ anderswohi­n befördert zu werden als ins Jenseits. Tatsächlic­h denkt der Premier ja schon laut darüber nach, wieder die Todesstraf­e einzuführe­n.

Der gescheiter­te Coup hätte zu einer Katharsis führen können, zu einer Aussöhnung auch mit den Kurden, die ebenfalls den Putschiste­n die Stirn geboten hatten. Doch Erdogan˘ ist offenbar wild entschloss­en, diese Gelegenhei­t zu verpassen. In seiner ersten Reaktion bezeichnet­e er den Putschvers­uch als „Geschenk Gottes“, um die Armee zu säubern und gegen Anhänger seines einstigen Verbündete­n Gülen vorzugehen. Und in seiner zweiten ließ er fast 3000 Richter absetzen. Erdogan˘ nützt die Chance nicht für einen gesellscha­ftlichen Ausgleich und eine Rückkehr zum Rechtsstaa­t, sondern um seine Macht zu festigen. Sein Geschäft ist die Polarisier­ung, er kann nicht anders, er lebt davon. Jetzt beginnt ein Putsch von oben.

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