Jetzt beginnt der Staatsstreich von oben
Der Putsch der Offiziere scheiterte, weil sie keinen Rückhalt im Volk hatten, auch nicht bei Gegnern des Präsidenten. Die Türkei hätte deshalb die Chance auf einen Neuanfang. Doch Erdo˘gan ergreift sie nicht.
Es hätte die Stunde des Versöhners schlagen können. Recep Tayyip Erdogan˘ hätte nach dem gescheiterten Militärcoup eine neue konsensuale Ära in der Türkei einläuten und seinen innenpolitischen Widersachern die Hand reichen können. Auch die größten Kritiker des Präsidenten, Oppositionsführer quer durch alle Lager, haben den Umsturzversuch einhellig verurteilt und damit im Keim erstickt. So verhasst, korrupt und autoritär ihnen die zivile Regierung erscheinen mochte, sie war ihnen immer noch lieber als eine neue Herrschaft der Armee.
An die bleierne Zeit der Generäle, an deren Folter- und Repressionsregime, haben die meisten Türken keine guten Erinnerungen. Sie wollen die selbst ernannten Hüter des Laizismus für immer in den Baracken sehen und nicht mehr an den Schalthebeln der Macht. Und deshalb stieg Augenzeugenberichten zufolge auch der eine oder andere säkular gesinnte Bürger, der Erdogan˘ aus tiefem Herzen ablehnt, auf die Panzer der Putschisten. Es galt ein höheres Prinzip als den selbstherrlichen islamistischen Präsidenten zu verteidigen: die Demokratie. Erdogan˘ soll in Wahlen von der Macht gedrängt werden, nicht durch Gewalt. Ein Putsch hätte das zerrissene Land um Jahre zurückgeworfen.
Der 15. Juli hätte einen Neuanfang für die Türkei markieren können. Für ein paar Stunden hatten es die Verschwörer – entgegen ihren Intentionen allerdings – geschafft, die gespaltene Nation zu einen: gegen sich nämlich. Ihr dilettantischer Putsch ging ins Leere. Denn sie hatten das Volk nicht hinter sich. Im 21. Jahrhundert reicht es nicht mehr, TV-Sender zu besetzen. In Windeseile formierte sich der zivile Widerstand, ausgerechnet über jene sozialen Medien, die Erdogan˘ ebenso gern wie vergeblich bekämpft. Auch innerhalb der Armee waren die Umstürzler rasch isoliert. Als ihr größter Fehler erwies sich, die Staatsführung unangetastet und frei herumlaufen zu lassen. Spätestens als sich der Präsident auf CNN-Türk per Handy-Video aus dem Urlaub zurückmeldete und zu Massendemonstrationen aufrief, fragte man sich, was für ein seltsamer Putsch da eigentlich im Gang ist. Im Nu kursierten Verschwörungstheorien, es handle sich um eine Insze- nierung Erdogans.˘ Ein paranoider Unsinn: Nicht einmal der dümmste Putschisten-Darsteller könnte sich erhoffen, für eine solche Aufführung von Erdogan˘ anderswohin befördert zu werden als ins Jenseits. Tatsächlich denkt der Premier ja schon laut darüber nach, wieder die Todesstrafe einzuführen.
Der gescheiterte Coup hätte zu einer Katharsis führen können, zu einer Aussöhnung auch mit den Kurden, die ebenfalls den Putschisten die Stirn geboten hatten. Doch Erdogan˘ ist offenbar wild entschlossen, diese Gelegenheit zu verpassen. In seiner ersten Reaktion bezeichnete er den Putschversuch als „Geschenk Gottes“, um die Armee zu säubern und gegen Anhänger seines einstigen Verbündeten Gülen vorzugehen. Und in seiner zweiten ließ er fast 3000 Richter absetzen. Erdogan˘ nützt die Chance nicht für einen gesellschaftlichen Ausgleich und eine Rückkehr zum Rechtsstaat, sondern um seine Macht zu festigen. Sein Geschäft ist die Polarisierung, er kann nicht anders, er lebt davon. Jetzt beginnt ein Putsch von oben.