Die Presse am Sonntag

»Die Gülenisten haben nicht genug Anhänger«

Türkei-Experte Gareth Jenkins glaubt nicht, dass der Prediger Fethullah Gülen hinter dem Putsch steckt.

- VON B O R I S K A´ L N O K Y

Sie gelten als der führende Experte zum türkischen Militär. Wieso putschte die Armee seit 1960 so oft? Gareth Jenkins: Historisch gesehen geschah dies immer dann, wenn die Armee die säkulare Ordnung oder die Demokratie in Gefahr wähnte oder Gewalt und Chaos die Innenpolit­ik prägten wie vor dem Coup 1980. In der Regel achtete das Militär dabei sehr auf die Stimmung im Volk – meistens schritt es nur ein, wenn es sicher sein konnte, Rückhalt in der Bevölkerun­g zu finden. Das scheint diesmal aber nicht der Fall gewesen zu sein. Ja, da haben sich die Drahtziehe­r schwer verrechnet. Sie hofften aber offenbar darauf. Und in den ersten Stunden war auch nicht ganz klar, wie die Bevölkerun­g reagieren würde. Die Regierung beschuldig­t Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen, den Putschvers­uch orchestrie­rt zu haben. Kann das stimmen? Das ist unwahrsche­inlich. Die Gülenisten hatten zwar Anhänger in den höheren Führungseb­enen, aber einfach nicht genug Anhänger im Militär, um das durchzuzie­hen. Aber jetzt gibt es massenhaft Festnahmen von Gülenisten im Militär und in der Justiz, zumindest stellt es die Regierung so dar. Die Regierung scheint anhand von internen Listen vorzugehen, die lang vorher zusammenge­stellt worden sind – Militärs, die man verdächtig­t, Gülenisten zu sein, oder die sonst nicht genehm erscheinen. Es fällt aber auf, dass diese Festnahmen überwiegen­d nicht dort stattfinde­n, wo die Handlung des Putschvers­uchs war. Dieser war auf Istanbul und Ankara konzentrie­rt, die Festnahmen fanden oft in anderen Orten statt. Ich halte es für wahrschein­lich, dass die Regierung den Coupversuc­h jetzt dazu nutzt, auch mit allen möglichen „politisch unzuverläs­sigen“Elementen im Militär und in der Justiz abzurechne­n. Vielleicht bald auch in anderen Kreisen. Sind die Gülenisten demnach unschuldig? Es kann sein, dass manche von den Plänen wussten. Die Sache muss ja von langer Hand vorbereite­t worden sein. Vielleicht haben sie diese Pläne unterstütz­t, da sie die Regierung verabscheu­en. Ich glaube aber nicht, dass sie die entscheide­nden Drahtziehe­r waren. Es gibt auch die These, dass Erdo˘gan selbst alles hat inszeniere­n lassen. Ich glaube nicht. Als er das erste Mal in dieser Nacht im Fernsehen zu erblicken war, schien er verstört, fast panisch. Das hat sich rasch geändert, als klar wurde, dass der Coup misslingen wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Militärs wissentlic­h in den Tod gegangen sind, um Erdogans˘ politische­m Kalkül zu dienen. Wer war es dann? Alles spricht dafür, dass es eine Gruppe unzufriede­ner Offiziere in Teilen der Gendarmeri­e und der Luftwaffe war, die hoffte, das Volk würde sich auf ihre Seite schlagen. In den ersten Stunden, als alles noch unklar war, schien das sogar kurz denkbar. Aber die türkische Gesellscha­ft duldet keine Interventi­onen des Militärs mehr. Das war eigentlich schon seit Jahren eine Grundstimm­ung in der Gesellscha­ft, und es zeugt von der Kurzsichti­gkeit der Putschiste­n, dass sie trotzdem zur Tat geschritte­n sind. Warum taten sie es überhaupt? Obwohl die Regierung in den letzten Jahren das Offizierko­rps zunehmend mit eigenen Leuten besetzte, gab es noch Teile der Streitkräf­te, die säkular und kemalistis­ch dachten, die islamisch geprägte Politik der Regierung ablehnten. Sie haben vielleicht gefühlt, dass ihre letzte Chance bald dahinschwi­ndet, weil die Regierung das Militär personell immer mehr auf Linie bringt. Es gibt Berichte über Gräueltate­n und Lynchmorde an den Putschiste­n . . . Es ist das Beunruhige­ndste an der ganzen Sache. Erdogan˘ rief in der Putschnach­t zur Herrschaft des Mobs auf. Er sagte nicht: „Ich vertraue auf die Sicherheit­sorgane.“Er rief seine Anhänger auf die Straßen, es war ein Aufruf zur Selbstjust­iz. Das kann die Türkei in eine sehr bedenklich­e Richtung führen. Gareth Jenkins forscht über die politische Lage der Türkei und hat mehrere Bücher geschriebe­n, beispielsw­eise über die ErgenekonP­rozesse und den politische­n Islam im Land. Er lebt in Istanbul.

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Pinar Jenkins

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