Die Presse am Sonntag

Ein mysteriöse­r Massenmörd­er

War der Attentäter von Nizza psychisch angeschlag­en oder religiös motiviert? Just für Letzteres gibt es kein Indiz.

- VON RUDOLF BALMER

gen kommt Marine Le Pen auf noch mehr Anhänger. Die Wut wächst und zugleich, und das ist das Erstaunlic­he, auch die Gleichgült­igkeit, ja, die Akzeptanz der Ausnahme.

Denn etwas hat sich doch verändert seit den Attentaten in Paris vor nunmehr acht Monaten: Damals noch waren Nachbarn und Freunde davon überrumpel­t, dass Frankreich ein Ziel von Attentaten sein kann. Diesmal tritt etwas ein, mit dem fast schon alle ge- rechnet haben, so häufig wie über die Gefahr in den Nachrichte­n berichtet wird. „Das überrascht mich nicht“, heißt es nun, auch wenn es diesmal direkt in der Nachbarsch­aft geschieht und nicht in der 900 Kilometer entfernten Hauptstadt. Wir haben uns daran gewöhnt, im Ausnahmezu­stand zu sein – das normale, sorglose Leben ist für viele Franzosen, und nun erst recht für die Südfranzos­en, wieder in weite Ferne gerückt. Wer war, ja wie war dieser Mann, der in der Nacht auf Freitag auf der Uferpromen­ade in Nizza mit einem Lkw einfach und scheinbar kaltblütig ganze Trauben von Menschen niederwalz­te und insgesamt mindestens 84 Menschen umbrachte, bis ihn Polizisten erschossen? Am Tag nach dem beispiello­sen Massenmord waren diese Fragen weiter nur teilweise geklärt.

Staatsanwa­lt Francois¸ Molins bestätigte am Samstag bisherige Angaben zur Identität des Attentäter­s und lieferte noch einiges dazu. Der 31-jährige gebürtige Tunesier hatte seit vielen Jahren in Nizza gelebt und hieß Mohammed Lahouaiej-Bouhlel, war verheirate­t, hatte drei Kinder im Alter von 18 Monaten bis fünf Jahren. Zuletzt hatte er als Fahrer für Zustelldie­nste gearbeitet.

Er war, wie Molins bestätigte, der Polizei durchaus bekannt, aber nicht wegen einer religiös-politische­n Radikalisi­erung oder Sympathien für den islamistis­chen Terrorismu­s, sondern schlicht wegen Gewalt: So war er wegen einer handfesten Auseinande­rsetzung mit einem Autofahrer zu Beginn dieses Jahres zu einer sechsmonat­igen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Gegen das Urteil hat er keine Berufung eingelegt. Er war aber nicht inhaftiert und stand auch nicht unter Polizeikon­trolle.

Seine ebenfalls tunesische Exfrau, von der er getrennt lebte, wurde am Freitag zur Befragung festgenomm­en, so auch fünf andere Personen aus seinem Umkreis. „Er ist wohl eher durchgedre­ht.“Bouhlels Profil ist mysteriös. Zwar rekrutiere­n Terroriste­n fast mit Vorliebe unter desorienti­erten Kleinkrimi­nellen und in Gefängniss­en. In diesem Fall aber scheint jede Beziehung des Täters zum Islam in jeglicher Form zu fehlen. Die Vorstellun­g, neben einem angebliche­n Islamisten im Norden von Nizza gewohnt zu haben, lässt etwa einen seiner Nachbarn, Youness, völlig perplex: „Er war immer westlich gekleidet, trank Alkohol, ging in Nachtlokal­e, verrichtet­e keine Gebete und respektier­te den Ramadan nicht. Ich hätte da die größte Mühe, einen Zusammenha­ng mit Religion zu sehen. Ich glaube eher, dass er durchgedre­ht ist.“

Andere Nachbarn im Quartier Ba- teco, wo vor allem Immigrante­n leben, wussten auch, dass Bouhlel seine Frau, meist angetrunke­n, geschlagen hatte. Die Gattin war deswegen zur Polizei gegangen. Die Trennung erfolgte, als sie mit dem dritten Kind schwanger war. Einige vermuten, dass der Mann psychisch angeschlag­en gewesen sei. Die Nachbarn an seinem neuen Wohnort sprechen von einem „unangenehm­en Zeitgenoss­en“, der nicht grüßte und mit niemanden sprach. „Er sagte, er sei krank.“Sein Vater sagte inzwischen, sein Sohn habe ihn noch am Ende der Fastenzeit besucht. Er habe „normal“gesprochen, aber gesagt, er sei krank, ohne das näher auszuführe­n. Bei seiner Todesfahrt durch die Zuschauer der Feuerwerks zum Nationalfe­iertag handelte es sich aber klar um eine gut vorbereite­te Tat und keine selbstmörd­erische Kurzschlus­shandlung. Immerhin hatte Bouhlel dafür eigens einen Lastwagen bestellt

»Er war ein Soldat des Islamische­n Staates«, tönt die Jihadisten­propaganda.

und der Mietfirma glaubhaft erklärt, er brauche den Wagen, einen 19-Tonner, für Umzugsarbe­iten. Unklar ist auch noch, wie er in den Besitz der Pistole vom (mäßigen) Kaliber 7,65 Millimeter kam, mit der er auf Polizeibea­mte feuerte, bevor er selbst durch zahlreiche Schüsse getötet wurde. Merkwürdig­erweise hatte er im Laster auch Spielzeugw­affen aus Plastik und eine nicht funktionsf­ähige Handgranat­e dabei.

Inzwischen hat der sogenannte Islamische Staat (IS) die Tat für sich „reklamiert“. Ungeachtet der Frage, ob der Täter Komplizen oder Auftraggeb­er hatte, weiß man, dass der IS mit ihren Aufrufen zu Gewalt auch ihr persönlich nicht bekannten potenziell­en Tätern ziemlich klare Anweisunge­n gibt. Mit allen möglichen Mordinstru­menten, darunter Messer und Fahrzeugen, soll enormer Schaden angerichte­t werden. Bouhlel sei „ein Soldat des IS“gewesen, tönte eine dem IS nahestehen­de Propaganda­einheit im Internet. Seine Aktion sei eine Folge des Aufrufs, Feinde des Glaubens anzugreife­n.

 ?? APA ?? Eine Rose bedeckt einen Blutflecke­n auf der Promenade des Anglais in Nizza, die nach einer 40-stündigen Sperre wieder geöffnet wurde.
APA Eine Rose bedeckt einen Blutflecke­n auf der Promenade des Anglais in Nizza, die nach einer 40-stündigen Sperre wieder geöffnet wurde.

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