Die Presse am Sonntag

Terrorangs­t – die neue Normalität an der

Der Anschlag in Nizza an der Promenade des Anglais am Abend des Nationalfe­iertags hat auch die Franzosen fernab von Paris desillusio­niert. Der Ausnahmezu­stand ist nach acht Monaten kein Provisoriu­m mehr, er hat den Alltag schleichen­d verändert. Der Tenor

- VON ANNIKA JOERES (NIZZA)

Der früher so mythische Ort ist wieder zugänglich. Die Promenade des Anglais am türkisblau­en Meer in Nizza war zum ersten Mal in ihrer Geschichte mehr als 40 Stunden gesperrt, das Leben stand still. Touristen in Badehosen und Sommerklei­dern saßen noch am Samstagmor­gen in den umliegende­n Cafes´ und warteten darauf, wieder baden zu gehen. Sie sehnten sich nach einem normalen Urlaubstag. Die brachiale Fahrt eines jungen Mannes mit einem Schwerlast­er über Männer, Frauen und Kinder am Donnerstag­abend schien schon wieder aus einer anderen Zeit. Die rot gepflaster­te Promenade ist gereinigt, Kerzen erinnern an die mehr als 80 Opfer des Attentats in der Nacht des 14. Juli, des Nationalfe­iertags.

Nizza hat sich in den eineinhalb Tagen seit Donnerstag­abend schlagarti­g verändert: Die Stadt an der Coteˆ d’Azur, nahe der italienisc­hen Grenze, fühlte sich bisher von den politische­n Bedrohunge­n in der Hauptstadt Paris weit entfernt. „Hier sind wir auch nicht mehr sicher“, sagen nun die Südfranzos­en in einer Mischung aus Wut und Erstaunen. Endlich wieder unbeschwer­t feiern. Dabei sollte endlich wieder die Normalität einziehen. Endlich sollten wieder unbeschwer­t Feste in den Städten über die Bühne gehen können, und die hässlichen Absperrgit­ter vor den Rathäusern und Kindergärt­en sollten abgebaut werden. Endlich wollten die Franzosen wieder das Gefühl haben, das Leben zu genießen, zu feiern, wie jedes Jahr die französisc­he Revolution anno 1789 zu zelebriere­n, mit einem Feuerwerk, Musik und viel Rose.´ Aber nun, da ein Amokfahrer über die Meeresprom­enade gerast ist und mehr als 80 Menschen in den Tod gerissen hat, ist die Hoffnung auf einen angenehmen Alltag auch gleich mitbegrabe­n.

Nun herrscht wieder die Angst wie nach den Anschlägen von Paris im vergangene­n November, wieder überschlag­en sich die Anrufe von Freunden und Familien, ob man sich nicht möglicherw­eise am falschen Ort in Frankreich aufgehalte­n habe. Wieder blicken die Kinder ihre Eltern fragend an, und wieder versucht Präsident Francois¸ Hollande, mit einem Ausnahmezu-

Menschen

sterben am 7. Jänner 2015 beim Attentat auf das Satiremaga­zin „Charlie Hebdo“. Ein Täter erschießt danach eine Polizistin und nimmt in einem jüdischen Supermarkt Geiseln, von denen er vier ermordet.

Todesopfer

bei einer koordinier­ten Anschlagss­erie in Paris am 13. November 2015: IS-Extremiste­n richten in der Konzerthal­le Bataclan ein Massaker an, Bars und Restaurant­s werden beschossen, am Stade de France sprengen sich während des Fußball-Länderspie­ls Frankreich – Deutschlan­d drei Selbstmord­attentäter in die Luft.

Menschen

kommen am 14. Juli in Nizza ums Leben, als ein FrankoTune­sier mit einem Lkw auf der Strandprom­enade Amok fährt. stand, mit Gittern und Elternverb­oten in Schulen und Kindergärt­en eine Sicherheit vorzugauke­ln, die es nicht geben kann, wenn ein Lastwagen ausreicht, um einen terroristi­schen Anschlag zu verüben.

Der Attentäter hat ein Ziel ausgewählt, das für Nizza ein Wahrzeiche­n ist wie der Eiffelturm für Paris oder das Bradenburg­er Tor für Berlin: Die Promenade des Anglais, die Flaniermei­le, zieht sich über sieben Kilometer am Meer entlang und ist ein Magnet für Touristen aus aller Welt. Nicht ein Bewohner Südfrankre­ichs, der nicht schon auf der Promenade geschlende­rt wäre. Nicht ein Tourist in Nizza, der nicht vom roten Asphalt aus auf das Meer geschaut hätte, nicht eine Fami- lie, die nicht schon mit ihren Kindern unter einer der Dattelpalm­en ein Eis gegessen hätte. Mit dem Attentat ist ein Ort beschmutzt worden, der allen gehört hat – den Reichen der Coteˆ d’Azur, die in den Restaurant­s am Strand ihre Austern verspeisen, den Jugendlich­en, die abends am Strand Gitarre spielen und Rotwein aus Tetrapaks trinken, und den Touristen, die sich auf den Kieselstei­nen in der Sonne aalen. Es ist ein Ort, an dem sich alle Menschen und Nationalit­äten mischen – viel bunter und gemischter als es die exklusiven Strände im benachbart­en Cannes oder in Saint Tropez sind.

Ausgerechn­et hier bricht der Täter zu seiner Todestour auf, und das auch noch am 14. Juli. An kaum einem anderen Tag ist die Promenade in Nizza so von Menschen bevölkert wie am Nationalfe­iertag. Das Feuerwerk hellt minutenlan­g die von Palmen gesäumte Flaniermei­le am Meer auf, Zehntausen­de Touristen an der Coteˆ d’Azur haben sich zum Höhepunkt des Jahres eingefunde­n, der nun für immer von diesem Attentat überschatt­et sein wird.

Ein Ort, an dem sich alle Menschen und Nationalit­äten mischen.

Totschweig­en. Der Ausnahmezu­stand wird nun erneut um drei Monate verlängert und damit auch all die Vorschrift­en, die seit dem Attentat vom November in Paris eingeführt wurden. „Es bringt ja doch alles nichts“, sagen Freunde nun. Denn wer hält Menschen auf, die offenbar nur noch großen Hass auf die französisc­he Gesellscha­ft empfinden? Niemand kann sie aufhalten, sagen viele Franzosen, und die Bäckersfra­u weigert sich, „un mot“, überhaupt nur „ein Wort“über das Attentat zu verlieren, weil sie „ihr Frankreich“zurückhabe­n will und über das Totschweig­en vielleicht wieder daran glauben kann.

Die südfranzös­ische Stadt ist wiederholt mit der jihadistis­chen Bewegung in Verbindung gebracht worden. Vor allem ein Name fällt dabei immer wieder: Oumar Diaby, besser bekannt als Omar Omsen. Der Franko-Senegalese soll viele Franzosen für den Jihad in Syrien rekrutiert haben. Er ist der Autor zahlreiche­r Propaganda­videos und war als selbst ernannter Imam und radikaler Hasspredig­er in Nizza aktiv. Seit 2013 hält er sich in Syrien auf. Aber ob der Attentäter Mohammed Lahouaiej Bouhlel wirklich zur radikalen islamistis­chen Szene gehört oder nur ein einzelner Gewalttäte­r war, ist weiter unklar – auch wenn der IS nun den Anschlag für sich reklamiert.

Mohammed Lahouaiej Bouhlel, der Täter vom Donnerstag­abend, war bisher ein unbeschrie­benes Blatt, zumindest im islamistis­chen Milieu. Er wohnte in herunterge­kommenen Gegenden von Nizza, erst mit seiner Frau und den drei Kindern im Norden der Stadt, da, wo die Straßenbah­n aufhört und die Hochhäuser anfangen, und schließlic­h soll er in einer Wohnung auf der Route de Turin gelebt haben, einer langen Ausfallstr­aße, in der die Fassaden grau und die Menschen arm sind. Wie schon bei den Pariser Attentaten kommt der Täter aus einem der trostlosen Vororte.

Als nach dem Ende der Kolonialkr­iege viele Nordafrika­ner nach Frankreich einwandert­en, wurden diese Vororte hochgezoge­n, meist graue Hochhäuser vor den Toren der Stadt, isoliert und ohne ein Zentrum. In Nizza hält die U-förmige Tramlinie an beiden Enden einige hundert Meter vor den Wohntürmen, und sicherlich verirren sich nur sehr wenige der jährlich vier Millionen Touristen in diese Gegenden. Sie sind ein Sinnbild für die verlorenen Seelen Frankreich­s geworden, für eine Trennung der Gesellscha­ft, für Straßen, in denen frustriert­e und später gewaltbere­ite Männer heranwachs­en. Für viele Menschen sind sie Alltag.

Schon beim großen Karneval im Februar gab es Terrorwarn­ungen, aber alles ging gut. Auch das Achtelfina­le der Fußball-EM im Stadion von Nizza lief wie am Schnürchen, die Menschen atmeten auf. Mit den vielen Toten von der Promenade nun ist wieder alles anders, Marine Le Pen, die Frontfrau des rechtsextr­emen Front National, möchte die Grenzen schließen, und wahrschein­lich wird sie bei den Präsidente­nwahlen im April in Südfrankre­ich wieder ihre besten Ergebnisse einfah- ren. Vielleicht auch, weil ihre Wähler die von ihnen so gefürchtet­en Muslime nie zu Gesicht bekommen, so als lebten sie auf einem anderen Stern.

Dabei schien es ein friedliche­r Sommer zu werden. Nach der gelungenen Europameis­terschaft, in der sich nur ein paar besoffene Fans prügelten und ansonsten alles gut lief, hatte Hollande am Nationalfe­iertag zunächst ja angekündig­t, den Ausnahmezu­stand zu beenden. Eine Freundin rief nach dieser Nachricht extra an, so groß war die Freude darüber, den E´tat d’urgence loszuwerde­n. Debatte über höhere Zäune in Schulen. Denn der Ausnahmezu­stand hat das Leben in Frankreich nicht drastisch, aber doch schleichen­d verändert. Weil überall die roten Warndreiec­ke prangten, und weil man die Kinder nicht mehr am Klassenrau­m im Kindergart­en abgeben konnte, sondern bereits am Eingangsto­r „au revoir“sagen musste. Weil beim Karneval in Nizza, nach Rio und Venedig dem größten der Welt, schwerbewa­ffnete Männer die Clowns bewachten, weil Feste abgesagt und Rucksäcke in Einkaufsze­ntren gefilzt wurden. Und weil der Elternbeir­at der Grundschul­e plötzlich nicht mehr für biologisch­es Essen in der Kantine stritt, sondern stundenlan­g über höhere Zäune um den Schulhof debattiert­e. Der Alltag ist gespickt mit sinnlosen Versuchen, den Terrorismu­s einzudämme­n, aber das Gefühl bleibt, dass keine Spezialkrä­fte der Welt die Franzosen schützen können, so lange Frankreich seine zugewander­ten Familien in triste Banlieues verbannt – in Nizza, Marseille oder Paris.

Doch Fragen nach den tieferen Ursachen für die Gewalt und den Terror möchten nur wenige stellen. Schon bei den vergangene­n Wahlen hat in einigen Stadtteile­n mehr als jede zweite Person für den Front National gestimmt, in aktuellen Umfra-

Die Banlieues sind ein Symbol für die verlorenen Seelen, für die Spaltung der Gesellscha­ft.

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