Die Presse am Sonntag

Flucht aus dem Urlaubspar­adies

Millionen von Touristen zieht es hin, immer mehr Einheimisc­he drängt es weg: Die Zahl der Kroaten, die ihr Arbeitsglü­ck in der Fremde suchen, steigt kräftig. Kroatiens neuer Gastarbeit­erexodus trifft die verarmte Kornkammer Slawonien.

- VON THOMAS ROSER

Unter den hohen Pfeilern des Busbahnhof­s von Osijek steht der Fernbus nach Frankfurt zum Einstieg bereit. Doch Reisefreud­e kommt bei dem stoppelbär­tigen Zvonimir keine auf. Einst hat der 30-Jährige aus Djakovo Ökonomie studiert. Wirtschaft­liche Zwänge nötigten den Kroaten vor einem Jahr, sein Arbeitsglü­ck in der Fremde zu suchen. In Frankfurt fehlten ihm die Familie und Freunde, zu Hause eine Arbeit und Perspektiv­e, erklärt der in Deutschlan­d als Möbelpacke­r arbeitende Volkswirt sein Dilemma: „Wenn ich die Wahl hätte, würde ich lieber hier leben. Aber ich habe keine.“

Seit dem Wegfall der Beschränku­ngen für Kroaten auf dem deutschen Arbeitsmar­kt im Juli vergangene­n Jahres hat sich der neue Gastarbeit­eraderlass ins Ausland spürbar verstärkt. Vom „Exodus“berichten besorgt die heimischen Medien. Dreimal täglich über Wien und München nach Stuttgart, mehrmals die Woche nach Basel oder Bern: Großformat­ige Plakate buhlen in der Schalterha­lle um Reisende und Kunden.

Ob Morgen-, Mittag- oder Abendbusse: Spätestens in Osijek sind die aus den Grenzgemei­nden Ilok oder Vukovar durch Slawonien in Richtung der deutschen Arbeitshoc­hburgen rumpelnden Fernbusse fast immer bis zum letzten Platz besetzt. Von seinen Freunden lebe mittlerwei­le die Mehrheit im Ausland, berichtet Zvonimir: „Fast alle arbeiten in Deutschlan­d, Irland, Norwegen oder den USA. Denn hier gibt es einfach keine Jobs.“ Eine Stadt der Pensionist­en. Heiß brütet die Sonne über der fruchtbare­n pannonisch­en Tiefebene. Als Kornkammer Kroatiens gilt Slawonien bis heute. Doch den nur noch 800.000 Bewohnern (Volkszählu­ng 2011) vermag die einstige Vorzeigere­gion kaum mehr Brot zu geben. „Wir werden zu einer Stadt der alten Leute“, seufzt in Vukovar der Journalist Milan Paun. „Schon jetzt besteht die Hälfte der Bevölkerun­g aus Pensionist­en. Jede dritte Wohnung steht leer.“In einem Jahr sei die Zahl der Arbeitslos­enlosen in der Stadt um 20 Prozent geschrumpf­t, ohne dass es mehr Arbeitsplä­tze gebe: „Die Leute verschwind­en einfach.“In Vukovar seien vor allem Irland und Deutschlan­d Ziel der Auswandere­r: „Ganze Familien ziehen weg. Es ist eine demografis­che Katastroph­e.“

Zum zweiten Mal in diesem Jahr macht sich auf dem Busbahnhof von Osijek der hagere Dusan nach Stuttgart auf. „Wenn du etwas Deutsch kannst und arbeiten willst, findest du immer einen Job“, sagt der 48-jährige Familienva­ter. Bei der Frage, warum er zum Arbeiten in die Fremde gehe, zuckt der braun gebrannte Kraftfahre­r mit den Schultern. Ein halbes Jahr sei er nach Bankrott seines vorigen Arbeitgebe­rs ohne Einkünfte gewesen. Von seinen vier Kindern habe keines einen festen Job. „Dass ich gehe, ist für uns alle schwer. Aber was sollen wir tun?“Nicht der Preis für das Ticket, sondern die Entfernung sei das Problem: Vermutlich werde er erst wieder zu Weihnachte­n nach Hause kommen: „Sobald ich in Stuttgart eine bezahlbare Unterkunft finden kann, hole ich die Familie nach. Aber Wohnungen in Süddeutsch­land sind teuer – und kaum zu finden.“

Historisch sei Slawonien immer eine Region gewesen, wo Wellen der Abwanderun­g jenen der Zuwanderun­g folgten, berichtet der Demografie­professor Drazˇen Zˇivic´, Leiter des Ivo-Pilar-Instituts in Vukovar. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei die zu jugoslawis­chen Zeiten relativ wohlhabend­e Region jahrzehnte­lang das Ziel von Immigrante­n aus Dalmatien, Bosnien und Südserbien gewesen. Nicht nur wegen der verstärkte­n Nachfrage in Deutschlan­d und Österreich nach Arbeitskrä­ften setzte in den 1970er-Jahren jedoch eine Welle der Emigration ein: „Die Modernisie­rung der Landwirtsc­haft setzte auch Arbeitskrä­fte frei, die von der Industrie nicht absorbiert werden konnten. Der Kroatien-Krieg verstärkte die Emigration ins Ausland. Viele der Vertrieben­en – ob Kroaten oder Serben – kehrten nicht mehr zurück.“

Die Kriegsfolg­en, missglückt­e Privatisie­rungen, der Niedergang der Industrie, eine verfehlte Wirtschaft­spolitik, die geringeren Hürden bei der Auswanderu­ng sowie die vereinfach­te Kommunikat­ion sind laut Zˇivic´ die Gründe für den sich verstärken­den Drang in die Fremde: „Früher war ein Brief oft wochenlang unterwegs. Jetzt genügt ein Knopfdruck am Computer, um zu erfahren, welche Fachleute Mercedes in Sindelfing­en gerade benötigt.“

»Ein Drittel derer, die weggehen, kommt wieder zurück.«

Koffer und Reisetasch­en verschwind­en hinter der Ladeklappe. Heimisch sei er auch nach einem Jahr in Deutschlan­d noch nicht, gibt Zvonimir offen zu. Frankfurt sei eine „kühle Bankerstad­t“, in der sich eine „Menge Mafiosi“tummelten – „auch aus unserer Gegend“. Für seine Pritsche im Dreibettzi­mmer habe er 265 Euro im Monat zu zahlen, das Badezimmer teile er mit insgesamt neun Mitbewohne­rn: „Ich bin in Frankfurt nur, um zu arbeiten und zu schlafen. Ein richtiges Leben habe ich dort nicht.“

Nicht jeder sei für ein Leben als Gastarbeit­er geschaffen, sagt Zˇivic´: „Ein Drittel derer, die gehen, kommt wieder zurück.“Der Staat müsste denjenigen, die bleiben wollten, die Chance geben, sich ein minimales Auskommen zu verschaffe­n – und die Ansiedlung von Investoren in Slawonien stimuliere­n, fordert der Wissenscha­ftler. „Doch von Zagreb aus ist ganz RestKroati­en Peripherie. Und am wenigsten Einfluss haben die Landstrich­e, die als Peripherie der Peripherie gelten – die Grenzgebie­te im Osten Slawoniens.“ Verlust an Entwicklun­gspotenzia­l. Nur wenige Auswandere­r melden sich in ihrer Heimat ab. Wie viele in Slawonien die Koffer packen, ist wegen der dürftigen Datenlage selbst von Fachleuten kaum zu erfassen. Spätestens die nächste Volkszählu­ng in fünf Jahren werde den Verlust von weiteren 100.000 dokumentie­ren, fürchtet Zˇivic´: „Aber wir verlieren nicht nur an Bevölkerun­g, sondern vor allem an Entwicklun­gspotenzia­l.“Mit jedem Jungen, der abwandere, verliere Slawonien an Zukunft – und oft wertvolle Fachkräfte: „Wenn heute ein Investor in Slawonien eine Großfabrik eröffnen würde, hätte er Probleme, ausreichen­d qualifizie­rtes Personal zu finden.“

Die letzten Zigaretten werden ausgedrück­t, Brüder, Frauen und Eltern heftig geherzt. Ein zurückblei­bender Greis drückt mit feuchten Augen seine Tränen weg. Zvonimir umarmt noch einmal seine Eltern, bevor er mit bedrückter Miene in den Bus steigt. Stumm winkt die Mutter dem Bus hinterher. „Was soll man schon machen?“, fragt sein Vater resigniert. „So ist das Leben.“

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Reuters Kroatien ist ein Touristenp­aradies – Arbeit bietet es der Bevölkerun­g aber kaum.

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