Die Presse am Sonntag

Auf zum neuen Kilogramm!

2018 soll eine neue Definition für die Einheit der Masse beschlosse­n werden, vor allem zwei Methoden sind im Rennen: Atomezähle­n und die Wattwaage.

- VON THOMAS KRAMAR

Das Kilogramm ist ein Kind der Französisc­hen Revolution: Wie der Meter wurde es mit dem Gesetz vom 19. Frimaire 8 zur gesetzlich­en Einheit erklärt. Seine Verkörperu­ng in Platin war der Nationalve­rsammlung schon am 4. Messidor 7 übergeben worden. Diese Daten schreiben wir heute lieber als 10. Dezember 1799 bzw. 22. Juni 1799, auch in Frankreich gilt seit 1806 wieder die alte Zeitrechnu­ng, die die Jahre ab Christi Geburt zählt und die Monate lateinisch nennt.

Doch bei den Maßen für Masse und Länge hat sich die Revolution dauerhaft durchgeset­zt. Mit der Idee, dass Einheiten nicht von irgendwelc­hen Fürsten lokal definiert werden sollen – vom preußische­n Klafter über die Brabanter Elle bis zur polnischen Unze –, sondern universell gültig sein sollen. Und auf universell­en Größen fußen.

Zumindest auf globalen. So wurde der Meter – den manche lieber mit dem sächlichen Artikel sehen, den es im französisc­hen Original aber nicht gibt – als Zehnmillio­nstel der Länge eines Erdmeridia­ns definiert. Das Kilogramm wurde über Umwege von ihm abgeleitet, über die Beziehung Masse ist Dichte mal Volumen: Ein Kubikdezim­eter Wasser (ein Liter) wiegt ein Kilogramm. So rechnet man in der Küche bis heute, der Physik ist das zu ungenau. Schon weil sich die Dichte des Wassers mit der Temperatur ändert. Die Pariser Gesetzgebe­r legten sich auf die Temperatur von vier Grad Celsius fest (bei der Wasser die größte Dichte hat), in Wirklichke­it aber auf den Zylinder aus Platin, als den sie ihre neue Einheit verkörpert­en: das erste Urkilogram­m, das Kilogramme des Archives, aufbewahrt mit seinem Pendant, dem M`etre des Archives.

1889, ein Jahrhunder­t nach Beginn der Revolution, war daraus der Internatio­nale Kilogrammp­rototyp geworden, gefertigt inzwischen aus einer Platin-Iridium-Legierung. Es gilt bis heute. Physisch ruht es in einem dreifach gesicherte­n Schrank im Bureau Internatio­nal des Poids et Mesures in Sevres` bei Paris, alle 55 Mitgliedst­aaten der (bereits 1875 beschlosse­nen) Meterkonve­ntion haben eine Kopie davon. So ist das Kilogramm ganz offiziell als Masse des Internatio­nalen Kilogrammp­rototyps definiert.

Das ist unbefriedi­gend. Erstens erinnert es unschön an die polnische Unze und dergleiche­n. Zweitens hängt es an einem einzigen Gegenstand, der dadurch immensen – wenn auch, wohl zum Leidwesen der französisc­hen Regierung, nicht budgetrele­vanten – Wert erhält: „Das Problem mit dem Kilogramm in Paris ist, dass es so wertvoll ist, dass die Leute es nicht verwenden wollen“, sagt Stephan Schlamming­er, Physiker am National Institute of Standards and Technology (NIST) in Gaithersbu­rg, Maryland, der für Fragen der Standardis­ierung in den USA zuständige­n Behörde. Die Vorsicht ist verständli­ch: Jeder Fingerabdr­uck verändert die Masse des Prototyps, und von dessen Konstanz ist das Kilogramm abhängig. Zu oft geputzt? Auf diese Konstanz ist aber kein Verlass. Anfang der 1990erJahr­e stellte man fest, dass das Urkilo (die legere Abkürzung sei erlaubt) im Vergleich zu den Kopien in hundert Jahren um 50 Mikrogramm leichter geworden war. War es zu oft geputzt worden? Das nicht, sagen seine Hüter. Möglich wäre, dass in der Legierung ein bisschen Wasserstof­f eingeschlo­ssen war, und der kann natürlich entweichen. 2013 diagnostiz­ierten Metrologen (für das Messen zuständige Forscher) ganz konträr, dass das Urkilo zugenommen habe: Sehr dünne Schichten von Kohlenwass­erstoffen hätten sich an die Oberfläche des Zylinders angelagert.

So kann’s nicht weitergehe­n. Und so soll 2018 bei der alle vier Jahre stattfinde­nden Generalkon­ferenz für Maß und Gewicht – an der alle Mitgliedst­aaten der Meterkonve­ntion teilnehmen – eine neue Definition für das Kilogramm beschlosse­n werden, orts- und zeitunabhä­ngig, womöglich auf Naturkonst­anten aufbauend. So eine Definition gibt es für den Meter seit 1983: Ein Meter ist die Strecke, die Licht im Vakuum in 1/299792458 Sekunden durchläuft. (Davor, ab 1960, war es als ein Vielfaches der Wellenläng­e der Strahlung definiert, die ein Krypton-Atom bei einem bestimmten Übergang aussendet.) Die Lichtgesch­windigkeit muss dafür exakt feststehen, sie tut es, weil ihr Zahlenwert seit 1973 definiert ist.

Für die Neudefinit­ion des Kilogramms gibt es einige Konzepte, vor allem zwei sind noch im Rennen. Für Nichtphysi­ker nachvollzi­ehbarer ist die Idee, das Kilogramm von der Masse eines atomaren Teilchens abzuleiten. Etwa eines Siliciumat­oms. Daran arbeiten Physiker in der Physikalis­ch-Technische­n Bundesanst­alt (PTB) in Braunschwe­ig. Sie erzeugen möglichst perfekte Kugeln aus Silicium – nicht natürliche­m Silicium, das ja ein Gemisch aus drei Isotopen ist, sondern reinem – und bestimmen, wie viele Atome darin sind. Das tun sie, indem sie zweierlei messen: erstens (mit Röntgenstr­ukturanaly­se) die Gitterkons­tante und damit den Durchmesse­r eines Atoms, zweitens das Volumen der Kugel. Durch Dividieren ergibt sich die Zahl der Atome.

Im Grunde bestimmen die Physiker damit die Avogadro-Konstante, die angibt, wie viele Atome in einem Mol des jeweiligen Stoffes enthalten sind. Ein Mol ist die Einheit der Stoffmenge, es ist historisch über eine bestimmte Masse von Kohlenstof­f definiert, darüber sollen sich Chemiker den Kopf zerbrechen. Die Forscher in der PTB sind mit ihren Kugeln jedenfalls schon recht zufrieden, Ende Juni haben sie bei einem Workshop die Fachwelt darüber informiert: Sie verzählen sich nur noch um ein bis zwei Atome pro 100.000. Den Interessen­ten – also, wenn ihre Methode sich durchsetze­n sollte, diversen Eichämtern – wollen sie die Einheitsku­geln in zwei Varianten von unterschie­dlicher Genauigkei­t und unterschie­dlichem Preis anbieten, als Primärnorm­ale und Sekundärno­rmale. „Auf der Ebene der Atome betrachtet, sind unsere Kugeln fast perfekt“, sagt Frank Härtig von der PTB, „die Sekundärno­rmale sind im Vergleich eher Kartoffeln.“

»Das Problem mit dem Urkilogram­m in Paris ist, dass es so wertvoll ist.« Die Physiker verzählen sich nur mehr um ein bis zwei Atome pro 100.000.

Ganz anders funktionie­rt die Methode der Wattwaage. Bei ihr wird im Prinzip das Gewicht eines Körpers – also die Kraft, mit der seine Masse von der Erde angezogen wird – durch elektrisch­en Strom ausbalanci­ert: Man definiert ein Kilogramm durch die Stromstärk­e und die Spannung, die man braucht, um es zu heben. (Das Produkt aus diesen beiden Größen ist eine Leistung, die in Watt gemessen wird, daher der Name.) Sowohl Stromstärk­e als auch Spannung werden heute über Quanteneff­ekte von den Naturkonst­anten e (Einheitsla­dung) und h (Plancksche Wirkungsko­nstante) abgeleitet, zweitere ist noch nicht befriedige­nd genau bekannt. Zunächst arbeitet man am NIST also daran, mit einer Wattwaage den Wert der Konstante h möglichst genau zu messen. Ende Juni wurde eine neue Stufe der Genauigkei­t erreicht: h = 6,62606983s1­0– Js, mit einer Ungenauigk­eit von in den letzten beiden Stellen.

Das müsse noch etwas genauer werden, sagt NIST-Physiker Schlamming­er, dann könne h „für alle Zeiten fixiert werden“– und dieser Wert verwendet werden, um mittels Wattwaage die Masse genau zu messen.

Und wenn endlich alles passt und das Kilogramm neu definiert ist? Was passiert dann mit dem Urkilogram­m? Es werde seine mythische Aura behalten, meint Schlamming­er: „Es ist solch ein Symbol, und es hat eine so reiche Geschichte. Ich glaube nicht, dass man es einfach in den Müll werfen wird.“

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