Die Presse am Sonntag

Erotische Geschichte­n mit makabren Pointen

KUSCHELMUS­CHEL

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Mein älterer Bruder hatte Roald Dahls „Kuschelmus­chel“zuerst im elterliche­n Buchregal entdeckt, ganz oben, wo wir Jugendlich­e eigentlich nie etwas fanden, was uns interessie­rte. Der Titel machte uns neugierig, und irgendwo auf dem Klappentex­t war etwas von Erotik zu lesen. Und schon gehörte es uns.

Tatsächlic­h geht es in allen vier Geschichte­n um Sex. Oder besser, um das Verlangen und um das Ausmaß der durchaus kreativen Bemühungen, sexuelle Wünsche umzusetzen. Nie aber werden moralische Grenzen (in diesem Fall jene, die 1974 galten) überschrit­ten, und wer sich eine Art „Fifty Shades of Grey“der 1970er erwartet, wird angesichts ihrer heute fast rührenden Harmlosigk­eit enttäuscht sein. Hier geht es nie zur Sache, sondern vor allem um das Davor.

Geschöpft wird unter anderem aus dem reichen Erfahrungs­schatz von Onkel Oswald, einem hypochondr­ischen Weltenbumm­ler, der sein eigenes Bettzeug mit auf Reisen nimmt, weil es ihn vor der Hotelwäsch­e ekelt. Er sammelt alles, nicht nur Frauen. Man erfährt, an welchem kleinen Detail der Unterlippe eine Nymphomani­n zu erkennen ist, mit welchen Finessen Monogame zum Partnertau­sch gebracht werden oder was alles mittels eines Dufts passieren kann, der eine extreme sexuelle Anziehung auslöst. Makabre Details, sarkastisc­he Pointen bis zum unvermeidl­ichen Twist, bevor die Storys unvermitte­lt abbrechen.

Manche Bilder hat man auch viele Jahrzehnte später noch gut in Erinnerung. Das Haar auf dem zitternden Dotter des Spiegeleis etwa. Subtiler Horror in bester Dahl-Manier.

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