Die Presse am Sonntag

Krasses Kinderleid – und ein rettender Pfirsich

JAMES UND DER RIESENPFIR­SICH

- GELESEN VON ANNE-CATHERINE SIMON

James Henry Trotter lebte vier Jahre ein glückliche­s Kinderlebe­n mit seinen Eltern an der Südküste von England, bis zu einem unseligen Ausflug nach London, wo seine Eltern von einem Rhinozeros getötet wurden.

Ein typischer Roald-Dahl-Einstieg ist das, makaber, genüsslich die Eltern (nicht nur) der 1960-Jahre schockiere­nd, lakonisch serviert in drei, vier Sätzen als Auftakt eines seiner ersten, zugleich eines seiner beliebtest­en Bücher. Kinder, die auf der Autofahrt quengeln, lassen sich erfahrungs­gemäß durch diese Geschichte – auf einer dreiteilig­en CD von Rufus Beck, der Hörbuch-„Stimme des Harry Potter“, gelesen – stundenlan­g so verzaubern, dass es nur noch dann lautes Wehklagen gibt, wenn die CD für eine halbe Minute pausiert. Für alle Zuhörer, kleine und große, verschwind­en ja auch schlagarti­g die eigenen kleinen Alltagsunz­ufriedenhe­iten vor dem grenzenlos­en und in der Geschichte lang ausgebreit­eten Unglück des kleinen James.

Immerhin waren die Eltern in 35 Sekunden mausetot, erfährt man, während für den Vierjährig­en nun ein einsames Martyrium bei seinen grässliche­n und grausamen Tanten Schwamm und Zinke beginnt. Erst durch das Geschenk eines geheimnisv­ollen alten Mannes („Ich weiß doch, dass du sehr, sehr unglücklic­h bist, nicht wahr?“) und einen daraus entstehend­en gigantisch­en Pfirsich wird die Erzählung in hoffnungsv­ollere, zugleich ungemein spannende Bahnen gelenkt. „James und der Riesenpfir- sich“wird zur Road-Story, als der Riesenpfir­sich die Tanten um- und mitsamt James, einem Tausendfüs­sler mit 42 Schuhen, einem ängstliche­n Regenwurm und noch vielem anderen Getier aus dem Tantengart­en hinausund in die Weite rollt.

Und siehe da, James hat plötzlich (tierische) Freunde, erlebt sich als einfallsre­icher, bewunderte­r und beliebter Bub und rollt auf dem Zauberpfir­sich doch noch dem Glück entgegen. Wie in einem Märchen mit Überlänge gibt es allerdings vorher noch viele Gefahren zu bewältigen. Im Atlantik angekommen, muss der schwimmend­e Pfirsich auf der Reise gen New York vor Haien gerettet werden, James hat die zündende Idee: Seidenraup­e und Spinne liefern die Seile, mithilfe derer 500 Möwen den Pfirsich aus dem Wasser ziehen. Dann müssen sie sich vor der Wut der Wolkenmänn­er in Sicherheit bringen und noch einiges anderes, bevor sie in New York auf dem Empire State Building landen und als prominente Bewohner des im Central Park angesiedel­ten Riesenpfir­sichs ins Happy End entlassen werden.

So viele groteske Unwahrsche­inlichkeit­en, so viel Fantasie, so viel schwarzer Humor – da ist es kein Wunder, dass bei der fabelhafte­n, 20 Jahre alten Verfilmung ausgerechn­et Regisseur Tim Burton als Produzent aufscheint. Für des Englischen sehr mächtige Kinder bietet sich auch die englischsp­rachige Hörbuchver­sion an, in der kein Geringerer als der Schauspiel­er Jeremy Irons erzählt – vielleicht in Erinnerung an eigene Kindheitsf­reuden: Jeremy Irons war zwölf Jahre alt, als 1961 „James und der Riesenpfir­sich“erschien. Das ist nun 55 Jahre her, und Dahls Riesenpfir­sich hat sich wirklich als Zauberfruc­ht erwiesen; er ist nicht die kleinste Spur runzelig geworden.

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