Krasses Kinderleid – und ein rettender Pfirsich
JAMES UND DER RIESENPFIRSICH
James Henry Trotter lebte vier Jahre ein glückliches Kinderleben mit seinen Eltern an der Südküste von England, bis zu einem unseligen Ausflug nach London, wo seine Eltern von einem Rhinozeros getötet wurden.
Ein typischer Roald-Dahl-Einstieg ist das, makaber, genüsslich die Eltern (nicht nur) der 1960-Jahre schockierend, lakonisch serviert in drei, vier Sätzen als Auftakt eines seiner ersten, zugleich eines seiner beliebtesten Bücher. Kinder, die auf der Autofahrt quengeln, lassen sich erfahrungsgemäß durch diese Geschichte – auf einer dreiteiligen CD von Rufus Beck, der Hörbuch-„Stimme des Harry Potter“, gelesen – stundenlang so verzaubern, dass es nur noch dann lautes Wehklagen gibt, wenn die CD für eine halbe Minute pausiert. Für alle Zuhörer, kleine und große, verschwinden ja auch schlagartig die eigenen kleinen Alltagsunzufriedenheiten vor dem grenzenlosen und in der Geschichte lang ausgebreiteten Unglück des kleinen James.
Immerhin waren die Eltern in 35 Sekunden mausetot, erfährt man, während für den Vierjährigen nun ein einsames Martyrium bei seinen grässlichen und grausamen Tanten Schwamm und Zinke beginnt. Erst durch das Geschenk eines geheimnisvollen alten Mannes („Ich weiß doch, dass du sehr, sehr unglücklich bist, nicht wahr?“) und einen daraus entstehenden gigantischen Pfirsich wird die Erzählung in hoffnungsvollere, zugleich ungemein spannende Bahnen gelenkt. „James und der Riesenpfir- sich“wird zur Road-Story, als der Riesenpfirsich die Tanten um- und mitsamt James, einem Tausendfüssler mit 42 Schuhen, einem ängstlichen Regenwurm und noch vielem anderen Getier aus dem Tantengarten hinausund in die Weite rollt.
Und siehe da, James hat plötzlich (tierische) Freunde, erlebt sich als einfallsreicher, bewunderter und beliebter Bub und rollt auf dem Zauberpfirsich doch noch dem Glück entgegen. Wie in einem Märchen mit Überlänge gibt es allerdings vorher noch viele Gefahren zu bewältigen. Im Atlantik angekommen, muss der schwimmende Pfirsich auf der Reise gen New York vor Haien gerettet werden, James hat die zündende Idee: Seidenraupe und Spinne liefern die Seile, mithilfe derer 500 Möwen den Pfirsich aus dem Wasser ziehen. Dann müssen sie sich vor der Wut der Wolkenmänner in Sicherheit bringen und noch einiges anderes, bevor sie in New York auf dem Empire State Building landen und als prominente Bewohner des im Central Park angesiedelten Riesenpfirsichs ins Happy End entlassen werden.
So viele groteske Unwahrscheinlichkeiten, so viel Fantasie, so viel schwarzer Humor – da ist es kein Wunder, dass bei der fabelhaften, 20 Jahre alten Verfilmung ausgerechnet Regisseur Tim Burton als Produzent aufscheint. Für des Englischen sehr mächtige Kinder bietet sich auch die englischsprachige Hörbuchversion an, in der kein Geringerer als der Schauspieler Jeremy Irons erzählt – vielleicht in Erinnerung an eigene Kindheitsfreuden: Jeremy Irons war zwölf Jahre alt, als 1961 „James und der Riesenpfirsich“erschien. Das ist nun 55 Jahre her, und Dahls Riesenpfirsich hat sich wirklich als Zauberfrucht erwiesen; er ist nicht die kleinste Spur runzelig geworden.