Die Presse am Sonntag

»Das eigene Leid kann nie so groß sein«

Schriftste­ller Stefan Slupetzky wollte Ordnung in seine Erinnerung­en bringen: Herausgeko­mmen ist ein zutiefst persönlich­er Roman, bei dem der Tod eine zentrale Rolle spielt. Mit der »Presse am Sonntag« sprach er über das Loslassen, die Liebe und warum er

- VON FRIEDERIKE LEIBL

„Der letzte große Trost“ist Ihr erster Nichtkrimi­nalroman. War der Sprung schwierig? Stefan Slupetzky: Es war einerseits schwierig, weil ich nicht auf das gewohnte Grundgerüs­t vertrauen konnte: Spannung aufzubauen, nicht zu viel zu verraten. Aber anderersei­ts war es auch eine Erleichter­ung, weil ich nicht so viel konstruier­en musste. Letztlich wurde formal aber doch einiges durcheinan­dergeschüt­telt. Anfangs war die Geschichte linear geschriebe­n. Die Zusammenar­beit mit dem Lektorat war für mich die bisher schwerste Arbeit. Manchmal bin ich zu Hause gesessen, die Anmerkunge­n meiner Lektorin vor mir, und habe begonnen, wild mit ihr herumzubrü­llen. Sie saß aber in Hamburg. Ich habe sozusagen virtuell mit ihr gestritten. Nachher war ich ihr sehr dankbar. Recht hat sie gehabt. Es ist halt schwierig, etwas, was man sich in harter Arbeit abgerungen hat, noch einmal vollkommen aufzurolle­n. Ist es ein Seitenspru­ng Schaffensp­hase? Fürs Erste ein Seitenspru­ng, aber wer weiß? Ich sitze gerade am fünften Lemming. (Anm. Bisher sind vier Kriminalro­mane rund um die Kultfigur Lemming erschienen.) oder eine neue In den Roman ist viel Persönlich­es geflossen. Ist der Protagonis­t, Daniel, Ihr Alter Ego? Zu ungefähr 60 Prozent. Und der Rest der Familie? Der Vater im Roman ist meinem Vater sehr ähnlich. Die anderen Familienmi­tglieder und Protagonis­ten musste ich auch aus dramaturgi­schen Gründen fiktiver gestalten. So zum Beispiel meine Mutter: Sie lebt, ist wohlauf und gesund. (Anm.: Im Roman landet sie nach einem Schlaganfa­ll im Pflegeheim.) Die Eltern werden als sehr gegensätzl­ich beschriebe­n. Ja, die Geschichte braucht diesen Kontrast. Ich glaube, dass Beziehunge­n von Eltern zueinander immer im Nebel bleiben. Als Kind versteht man nicht, was sich zwischen Eltern abspielt. Oder einmal abgespielt hat. Der Vater hat eine sehr belastete Familienge­schichte. Ein Teil seiner Familie ist daran beteiligt gewesen, Zyklon B für die Konzentrat­ionslager zu entwickeln. Er heiratet eine jüdische Frau, von deren Familie kaum jemand den Holocaust und die Folgen überlebt hat. Ist diese Ehe auch der Versuch, etwas zu kompensier­en? Ich kann nur vermuten. Ich glaube nicht, dass es bei meinem Vater so war. Er hat sich wirklich zutiefst in meine Mutter verliebt und wollte sie heiraten, um mit ihr glücklich zu sein. Während der Vater zum Experten im Judentum wird, versucht die Großmutter mütterlich­erseits alles, um das Jüdischsei­n zu verstecken, die Enkel sollen auch keine jüdischen Namen tragen. Ich glaube, das ist bei vielen heute noch so. Der Wunsch, sich nicht als Juden erkennen zu geben. Es gibt sicher auch viele Menschen mit Zivilcoura­ge, die sagen, das bin ich, so bin ich auf die Welt gekommen, und dazu stehe ich. Aber wenn es dann um ihre Kinder geht, ist in erster Linie der Wunsch da, sie vor allem zu schützen, was da noch kommen möge. Sie erwähnen das Gefühl von Schuld bei Angehörige­n von Opfern des Holocaust. Die Schuld, überlebt zu haben. Haben Sie das auch verspürt? Ich glaube nicht, nein. Ich bin in der glückliche­n Situation, dass sich mein Vater von den Dingen, die teilweise von

1962

Geboren in Wien.

1981–1990

Studium an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Saxofonist und Schauspiel­er.

Seit 1991

Schriftste­ller und Illustrato­r.

2005–2012

Slupetzky dramatisie­rt Romane und Novellen (Stefan Zweig, Arthur Schnitzler) für die Festspiele Reichenau. Texter und Sänger der Wienerlied-Combo Trio Lepschi mit Tomas Slupetzky und Martin Zrost. Kinderbüch­er, Kurzgeschi­chten, Romane: „Der Fall des Lemming“, „Lemmings Himmelfahr­t“, „Das Schweigen des Lemming“, „Lemmings Zorn“(alle Rowohlt), „Polivka hat einen Traum“(Kindler). Jüngste Publikatio­n: „Der letzte große Trost“(Rowohlt, 2016) seiner Familie verbrochen wurden, völlig gereinigt hat. Ich bin dadurch schon gereinigt auf die Welt gekommen. Ich habe keine Spannungen mit mir mitgetrage­n. Bei uns daheim war immer klar, wo wir hingehören. Aber die Hauptfigur relativier­t den eigenen Schmerz anhand des Schmerzes der jüdischen Verwandtsc­haft. Das ist für mich eine grundsätzl­iche Frage der zweiten Nachkriegs­generation. Die betrifft auch stark die Literatur. Wenn ich eine große Tragödie schreiben will, liegt es nahe, auf den Zweiten Weltkrieg zurückzuko­mmen. Das war die letzte wirklich große umfassende Tragödie in unseren Breiten. Das macht schon etwas mit den Menschen, die heute leben, auch mit den Schriftste­llern. Irgendwo im Hinterkopf taucht die Frage auf, wieso wiegt mein Leben weniger, warum ist mein Leben weniger erzählensw­ert? Weil es zufällig in einer Friedensze­it stattfinde­t? Wer sagt, dass es weniger erzählensw­ert ist? Mir hat sich diese Frage gestellt. Das individuel­le Schicksal muss doch immer vor dem kollektive­n Schicksal verblassen, nicht? Das ist auch ein Zwiespalt gegenüber der eigenen Befindlich­keit. Das eigene Leid kann nie so groß sein wie das Leid dieser Generation. Bleiben wir beim Tod. Auch der Titel leitet sich davon ab. Empfinden Sie den Tod als tröstlich? Das ist von Tag zu Tag unterschie­dlich. Es gibt vielleicht schon Situatione­n, in denen ich ihn als tröstlich empfände. Aber meistens nicht. Da denke ich mir, ich muss noch dieses oder jenes reparieren oder, jetzt ist es gerade so schön, es wäre schade zu sterben. gere Zeit, ihn plötzlich zu sehen. Es ist eine Geschichte des Nicht-loslassen-Könnens. Das war auch der Auslöser für das Buch. Die Synapsen im Gehirn, die liegen auf der Lauer und warten auf ihre Chance. Es ist ein Bereitsein dafür, das Unglaublic­he zu glauben. Dass jemand gar nicht gestorben ist. Dass er plötzlich dasteht. Daniel träumt ein Jahr lang jede Nacht von seinem Vater. Das war bei mir genauso. Und jedes Mal derselbe Schock beim Aufwachen wie in dem Moment, als ich die Todesnachr­icht bekam. Warum ist es so wichtig loszulasse­n? Weil man sonst nicht mehr glücklich wird im Leben. Weil man nicht weiterlebe­n kann. Nur existieren, nicht leben. Hat das nicht Nicht-loslassen-Können nicht auch mit der Angst zu tun, dass Erinnerung­en verblassen, dass einem jemand ins Nichts entgleitet? Bei meinem Vater habe ich das interessan­terweise nicht. Ich kann ihn sofort imaginiere­n. In welcher seiner Lebensphas­en erinnern Sie sich an ihn? Wie er zuletzt war. In meiner Erinnerung ist er nun fast gleich alt wie ich. Er war 58, als er starb. Sie wollten eine Ordnung in Ihren Erinnerung­en schaffen. Warum? Erinnerung­en sind doch per se ungeordnet, diffus. Einordnen heißt auch, den Wert, die Bedeutung einer Sache zu erkennen. Wenn ich etwas nicht einordnen kann, verstehe ich es nicht. Einordnen hat auch mit Begreifen zu tun. Sie erwähnen immer wieder die Suche nach einem Spiegelmen­schen. Ist das Einander -Ergänzen die Idealform der Liebe? Ich habe lang gedacht, dass man allein nicht ganz sein kann, aber ich bin

. . . ob Sie gern reisen? Ich bin gern weg, aber ich fahre nicht gern weg. Und wenn ich dort bin, mag ich nicht mehr zurück. Aber wenn ich da bin, mag ich auch nicht weg. . . . ob Sie gern auf der Bühne stehen? Ja. Ich lasse gern mal die Rampensau raus. Das ist das Schöne am Wienerlied­trio: Es ist ein guter Kontrast zur Einsamkeit des Schreibens. . . . ob es auch schreibfre­ie Phasen gibt? Bisher habe ich nach jedem Buch eine Pause gemacht, und das war immer schlecht. Die Pause hat sich plötzlich ausgeweite­t, von zwei Wochen auf drei Monate, und es war richtig schwierig, danach wieder reinzukomm­en. draufgekom­men, dass das nicht stimmt. Mittlerwei­le glaube ich, dass es genau umgekehrt ist. Man kann nur den Menschen finden, der zu einem passt, wenn man allein ganz ist. Glauben Sie, dass es Menschen gibt, die einfach mehr Glück haben als andere? Die Frage ist, wie viel davon selbst gemacht ist. Nach meiner Erfahrung gibt es Knotenpunk­te, an denen sich das eine oder andere häuft. Es gibt Zeiten, da läuft einfach alles schief. Da kann man die Hand draufhalte­n, dass da noch was dazukommt und dann noch etwas. Aber es gibt auch viele Menschen, die sich ihr Pech selbst basteln. In dem Roman heißt es, dass eher die Zeit den Charakter formt als das Erbgut und die soziale Umgebung. Welche Charaktere wird denn unsere Zeit formen? Die Zeit formt natürlich auch die soziale Umgebung. Entspreche­nd den stetig wachsenden globalen und nationalen Ungerechti­gkeiten findet heute eine große Radikalisi­erung statt. Es gibt viele Klüfte, nicht nur finanziell­er und politische­r, auch menschlich­er Natur. Weil man besser leben will als der Nachbar? Das ist etwas, was ich nie verstanden habe. Da fehlt mir offenbar ein Gen dafür. Ich hab mich nie besser gefühlt, weil es dem Nachbarn schlechter geht. Wie ist das mit Schriftste­llern? Es ist wohl auch nicht lustig, wenn jemand mit einem mittelmäßi­gen Buch einen Erfolg landet? Nein, natürlich nicht. Wenn einer gute Bücher schreibt, die sich besser verkaufen als meine, bin ich neidisch, wenn er schlechte Bücher schreibt, die sich besser verkaufen, bin ich neidig. Gibt es Freundscha­ften unter Schriftste­llern? Selbstvers­tändlich. Solange sie nicht mehr verkaufen als ich.

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Katharina Roßboth „War immer klar, wo wir hingehören.“Slupetzky an einem kühlen Sommertag vor dem Palais Liechtenst­ein.
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Der Tod des Vaters bringt den Sohn in eine Ausnahmesi­tuation. Er vermeint über län-
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