Die Presse am Sonntag

»Wer konnte, verließ das Land «

Der Autor Hüseyin ¸Sim¸sek musste nach dem Militärcou­p mehrere Jahre im Gefängnis verbringen. Über diese Zeit der Gewalt schrieb er etliche Bücher und Artikel.

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Die ersten Tage in Haft sind ausschlagg­ebend, das wissen die Soldaten. In den ersten Tagen lässt sich durch Folter das meiste aus den Gefangenen heraushole­n. Die ersten Tage sind auch deswegen wichtig, weil Komplizen, Freunde und Angehörige der Verhaftete­n – die zu Denunziere­nden – noch nicht so schnell fliehen können. Diese Erfahrung machte Hüseyin Sim¸sek¸ in der berüchtigt­en Haftanstal­t Metris in Istanbul, wo nach dem Militärput­sch 1980 viele politische Gefangene zusammenge­pfercht wurden. Sim¸sek¸ sollte Namen nennen, so wie jemand seinen Namen den Verfolgern verraten hatte.

Die Junta zieht sich durch Sim¸seks¸ Leben wie ein roter Faden. Der Journalist und Autor schrieb zehn Bücher und unzählige Artikel über diese Zeit, die mehrere Jahre seines Lebens raubte und klaffende Wunden in der türkischen Gesellscha­ft hinterließ. Im Putschjahr 1980 bereitete sich der junge Sim¸sek¸ gerade auf die Universitä­tsprüfunge­n vor. Zuvor hatte er sich in seinem Gymnasium mit anderen Schülern zusammenge­tan, man organisier­te Veranstalt­ungen gegen staatliche Willkür, gegen die Repression von Minderheit­en wie 1978 in der Provinz Maras,¸ als Nationalis­ten über 100 Aleviten massakrier­ten. „Wir waren eine lose Plattform“, erzählt Sim¸sek,¸ „Damals veränderte sich das Land, und wir wollten uns engagieren.“Nach der Kundgebung für die Maras-¸Opfer wurde Sim¸sek¸ das erste Mal verhaftet. Drei Tage Prügel, ab diesem Zeitpunkt stand sein Name auf der schwarzen Liste. „Nach dem Putsch“, erzählt Sim¸sek,¸ „warteten wir alle auf die Soldaten. Wer konnte, verließ das Land.“Ihn kamen sie eines Nachts im März 1981 holen. Einhundert­elf Tage verbrachte der damals 19-Jährige in U-Haft, danach wurde er nach Metris verlegt. Da wie dort waren die Bedingunge­n grausam, Gewalt beherrscht­e den Alltag. In Unterhosen vorgeführt. Bis Sim¸sek¸ das erste Mal einen Gerichtssa­al von innen sah, vergingen vier Jahre. Die linke Schülerpla­ttform, der er angehörte, wurde ab 1985 als Teil des Mammutproz­esses gegen die Kommunisti­sche Partei vor Gericht abgehandel­t, wiewohl die beiden Gruppen nichts miteinande­r zu tun hatten. Sim¸sek¸ galt dabei als Drahtziehe­r der Schülerbew­egung. Da sie sich in der Metris-Anstalt geweigert hatten, die blaue Sträflings­uniform anzuziehen, wurden er und andere Inhaftiert­e dem Richter in Unterhosen vorgeführt. „Wir haben gefroren. Der Richter hat uns beschimpft und uns wieder hinausgesc­hmissen.“

Sechs Jahre fasste Sim¸sek¸ aus. Noch während seiner Zeit im Gefängnis war er davon überzeugt, dass das Leben für ihn dort enden würde. „Als ich hinauskam, fühlte ich mich wie ein Kind, das das Laufen verlernt hatte und plötzlich wieder gehen musste.“Nach seiner Entlassung sollte Sim¸sek¸ eigentlich ins Militär. Nach all dem, was er gesehen und erlebt hatte, kam ein Dienst nicht infrage. Er weigerte sich und folgte seiner Familie nach Österreich.

Den Putschvers­uch vergangene Woche hat Sim¸sek¸ lang analysiert. Er unterschei­de sich in vielerlei Hinsicht von 1980, zumal die Armee diesmal nicht geschlosse­n handelte. Vielmehr erinnere ihn das, was nun folgt, an den damaligen Coup. „Viele Menschen sind nicht für die Demokratie auf die Straße gegangen, sondern für den Machterhal­t der AKP. Was die Partei jetzt macht, ist dasselbe, was das Militär gemacht hätte.“Massenhaft Entlassung­en, massenhaft Verhaftung­en.

Die bedenklich­e Entwicklun­g würde sich nun auch in Österreich fortsetzen, wo Tausende Anhänger des Präsidente­n Erdogan˘ auf die Straße gegangen sind und ein kurdisches Lokal angegriffe­n haben. „Unter dem Deckmantel der AKP“, sagt Sim¸sek,¸ „gibt es viel Gewaltpote­nzial.“

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