Die Presse am Sonntag

»Jeden Tag wurden Leute erschossen«

Der Putsch riss ganze Familien auseinande­r – etwa jene des kurdischen Sozialarbe­iters Ali Gedik.

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„Erdogan“,˘ sagt Ali Gedik, „hat eine Bevölkerun­gsschicht geschaffen, die ihn als heilig sieht. Die für die Scharia bereit ist. Aber es gibt sicher viele, die sich seinen Abgang herbeisehn­en.“Der Sozialarbe­iter hat die Stunden nach dem versuchten Putsch vergangene Woche mit Entsetzen verfolgt. „Man hat gesehen“, sagt er, „dass die Bevölkerun­g bereits ist zu lynchen.“Was habe das mit Demokratie zu tun?

Gedik wuchs in Pazarcık im südöstlich­en Anatolien auf, mit Angst und Scham, erzählt er, weil er kurdischer Alevit ist. In den 1970ern war in der nationalis­tischen Atmosphäre kein Platz für Minderheit­en. Schon gar nicht, wenn sich in den Gruppen „linke Störenfrie­de“formierten. „Jeden Tag“, sagt der Sozialarbe­iter, „wurden Leute auf der Straße erschossen.“

Gedik war 15, als er 1976 mit seinem Onkel die Türkei verließ. Vorarlberg war das Ziel, und hatte er eben erst Türkisch gelernt, musste er sich nun durch die deutsche Sprache ackern. Als Gedik 1980, im Jahr der Junta, für ein paar Wochen in die Türkei zurückkehr­te, fand er Pazarcık in Aufruhr. In seiner Abwesenhei­t hatte sich auch noch der bewaffnete kurdische Widerstand formiert. Ein fatales Klima der Gesetzlosi­gkeit war die Folge, und in dieser wurden eines Nachts der Bürgermeis­ter des Dorfs und sein Sohn erschossen. „Ihr müsst sofort weg“, sagte Gediks Vater beiden Söhnen, als sie nach dem Aufwachen die Neuigkeite­n erfuhren. Denn Gediks Bruder, ein Teenager, hatte sich einer linken Gruppe angeschlos­sen. Es war die Zeit des Generalver­dachts.

Über die Berge gelangte das Trio – ein Nachbarsso­hn war mit dabei – nach Istanbul und schließlic­h nach Österreich. Sie stellten einen Asylantrag, kurz danach putschte sich in Ankara das Militär an die Macht. Die Auswirkung­en waren nicht auf die Türkei be- schränkt. „Hunderte Namen standen in der Zeitung. Meine Knie zitterten“, sagt Gedik. Denn ein paar Wochen nach dem Coup veröffentl­ichten Medien einen Aufruf des Militärs, wonach die aufgeliste­ten Staatsbürg­er sofort ins Land zurückkehr­en sollten. Darunter Gediks Bruder und der Nachbarsso­hn, „weil sie den Bürgermeis­ter erschossen haben sollen“. Es sei weitverbre­itet gewesen, ungeklärte Taten unliebsame­n Bürgern anzuhängen.

Sie kehrten nicht zurück, so nahm das Militär den Vater gefangen, zwei Jahre lang. Briefe zu schreiben war zu dieser Zeit gefährlich, jahrelang hörten Familien nichts voneinande­r. „Der Putsch“, sagt Gedik, „riss uns auseinande­r.“Die anderen Geschwiste­r flohen nach Deutschlan­d, während sie in Österreich blieben, aber das Asylverfah­ren war zäh. Daher schrieb Gedik 1982 einen Brief an den Präsidente­n, Rudolf Kirchschlä­ger: „Er half sofort.“

 ?? Stanislav Jenis ?? Ali Gedik lebt seit 40 Jahren in Österreich.
Stanislav Jenis Ali Gedik lebt seit 40 Jahren in Österreich.

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