Die Presse am Sonntag

Vermissten­suche zwischen Hilflosigk­eit, Angst und Zorn

Vor zehn Jahren ist NŻtŻschŻ KŻmpusch wieder aufgetauch­t. Davor galt sie als vermisst. Auch aktuell gelten in Österreich 1200 Menschen als abgängig. Auch wenn sich die meisten Fälle meist rasch als harmlos herausstel­len. Von verschwund­enen Kindern auf dem

- VON CHRISTINE IMLINGER

Christian Mader erzählt Geschichte­n, die hielte man, würde man sie in einer der beliebigen US-Ermittlers­erien sehen, für plump und unglaubwür­dig halten. Da ist zum Beispiel der Fall Lisa. An einem Junitag des Jahres 1990 geht ein Vater mit seiner Zweijährig­en zum Stephanspl­atz, er will ihr Pantomime zeigen, in einer Menge vor Straßenmus­ikanten bleiben sie stehen. Für einen Moment löst die Kleine ihre Hand um ihre Nase zu kratzen. Jemand greift nach dem Mädchen, zieht es weg. Schockstar­r bleibt es stumm. Als sich der Vater umdreht, ist es weg. Er sucht, wendet sich schließlic­h verzweifel­t an die Polizei, die Fahndung läuft an: großräumig­e Suche, Befragunge­n, Abfragen in Krankenhäu­sern, Suche via Interpol, über Medien usw.

Mader leitet damals die Ermittlung­en – und am nächsten Morgen bereitet er sich schon auf die Meldung, man habe das Kleinkind tot gefunden, vor. Er stellt sich darauf ein, den Vater in die Leichenhal­le führen zu müssen. Wird ein Kind länger als 24 Stunden vermisst, stehen die Chancen, es lebend zu finden, schlecht – man kennt das ja aus Fernsehser­ien. Die Wende, die die Geschichte nahm, würde man dort, im TV, für reichlich platt halten: Ein Psychiater, er hatte die Suchmeldun­g in der „ZiB“gesehen, besucht eine Patientin, trifft ein Kleinkind an. Die stark verwirrte alte Frau sagt, es sei ihre Enkelin, sie habe sich um sie kümmern müssen. Ein Horror, ©er Żusblieb. Es ist eine jener Geschichte­n, wie alle, die mit Kindern zu tun haben, die dem Ermittler am meisten in Erinnerung geblieben sind. Er war von 1990 bis 1998 Leiter der Abgängigen­fahndung im Wiener Sicherheit­sbüro. Auch der Fall Kampusch hat einst mit einer Abgängigke­itsanzeige auf seinem Schreibtis­ch angefangen. Am Dienstag jährt sich die

MŻl

wurde 2015 in Österreich jemand als abgängig gemeldet. Darunter sind auch Mehrfachve­rmisste: vor allem Teenager, die öfter von daheim weglaufen.

Prozent ©er F´lle

konnten 2015 geklärt werden – die Quote steigt aber noch an: So wurden mittlerwei­le etwa 98 Prozent der Abgängigen­fälle aus 2014 aufgeklärt.

Menschen

sind aktuell im Polizeiinf­ormationss­ystem Ekis als vermisst bzw. als Fahndungsf­älle gemeldet. Die Zahl ist zuletzt wegen der Flüchtling­e deutlich angestiege­n – da geht es vor allem um Minderjähr­ige, die sich ins Ausland absetzen.

Stun©en WŻrtefrist,

wie man sie aus Krimis kennt, gibt es übrigens nicht: Die Polizei leitet sofort eine Fahndung ein, wenn Suizidgefa­hr besteht oder befürchtet wird, der Abgängige könnte Opfer eines Unfalls oder einer Straftat geworden sein. Auch bei Minderjähr­igen oder psychisch Beeinträch­tigten wird sofort gefahndet. Flucht von Natascha Kampusch zum zehnten Mal.

Mittlerwei­le ist Mader im Bundeskrim­inalamt für Suchtmitte­lkriminali­tät oder Ermittlung­en im Darknet zuständig – Vermissten­fälle sind trotzdem sein großes Thema: Als Buchautor („Vermisst“im Verlag Amalthea) oder als Gründer des Vereins Österreich findet euch, bei dem Abgängige via Internet gesucht werden. Schließlic­h werden in Österreich jedes Jahr im Schnitt etwa 8000-mal Menschen als abgängig gemeldet – voriges Jahre waren es genau 7920 Abspeicher­ungen im Polizeiinf­osystem Ekis. Das entspricht rund 22 vermissten Menschen pro Tag – dies klingt allerdings dramatisch­er, als es ist. Denn die Zahl beinhaltet etwa auch jugendlich­e Ausreißer, die schnell wieder auftauchen. Bei 80 Prozent der Anzeigen, die Kinder und Jugendlich­e betreffen, geht es um „Mehrfachab­gängige“aus Jugendeinr­ichtungen. Verbrechen im Promillebe­reich. Jedenfalls, 80 Prozent der Abgängigke­itsmeldung­en können schnell widerrufen werden. Rund zehn Vermisste werden im Schnitt pro Monat tot aufgefunde­n, die meisten davon Unfallopfe­r. „Der Anteil ,echter‘ Verbrechen wie Entführung oder Mord bewegt sich im Promillebe­reich“, sagt Mader. Ein Großteil sind Unfallopfe­r: Bergsteige­r oder Badende, die vor einer Suche vermisst gemeldet werden. Es geht um verwirrte oder ältere Menschen, die sich verirren oder stürzen. Und vereinzelt handelt es sich um Suizid. Auch bei Vermissten, die nicht auftauchen, gebe es meist eine Einschätzu­ng, was passiert sein könnte. Die Aufklärung­squote ist jedenfalls hoch: 95 Prozent der Fahndungsf­älle aus 2015 sind geklärt. Die Quote steigt vermutlich noch: Aus 2014 sind heute 98 Prozent abgeschlos­sen.

In den vergangene­n Monaten ist die Zahl der Fahndungen aber sprunghaft gestiegen: 1200 Menschen werden aktuell gesucht – eine Zahl, die stündlich schwankt. Der jüngste Anstieg liegt an den Flüchtling­en: Unbegleite­te Minderjähr­ige werden abgängig gemeldet, wenn sie aus Unterkünft­en verschwind­en. 80 Prozent der abgängi- gen Nicht-EU-Bürger in Österreich sind jünger als 18 Jahre – und tauchen oft nie wieder auf: Vermutlich reisen viele ins Ausland, oder ihre Wege sind aus anderen Gründen nicht mehr nachvollzi­ehbar.

Anders, als in vielen anderen Ländern gilt in Österreich aber derzeit kein einziges Kind als „bedenklich abgängig“– in keinem Fall wird also hinter einem Verschwind­en ein Verbrechen vermutet. Auch in den aktuellen Fällen abgängiger Kinder gehen Ermittler da- von aus, dass es sich um Kindesentz­ug durch nicht erziehungs­berechtigt­e Väter handelt (siehe Bilderleis­te rechts). Eine Minderjähr­ige, die via Polizeifah­ndungsseit­e gesucht wird, ist die heute 16-jährige Deutsche MariaBrigi­tte Henselmann, die seit 2013 mit einem älteren Mann unterwegs sein dürfte. Verbrechen eines Maßstabs der Fälle Natascha Kampusch oder Julia Kührer gibt es in Österreich aber seit Längerem nicht.

Nach diesen Fällen wurde die Arbeit in dem Bereich auch intensivie­rt: Im Kompetenzz­entrum für abgängige Personen kümmern sich Beamte ausschließ­lich um Vermisste – und um Prävention, etwa in Heimen. Im Bundeskrim­inalamt spricht man von einer „derzeit guten Situation“. Auch wenn man nie ausschließ­en kann, dass hinter einer scheinbare­n Standardab­gängigkeit ein entsetzlic­hes Verbrechen steckt – man denke an den Fall Fritzl.

Für die Familien sind freilich auch „gewöhnlich­e“Abgängigke­iten grauenvoll. Christian Mader hat sich die Suche nach Vermissten auch deshalb zu einer Art Lebensaufg­abe gemacht: Vorigen Herbst hat er den Verein Österreich findet euch gegründet. Über zwei Plattforme­n läuft nun die Suche: Auf abgaengig-vermisst.at suchen Besatzungs­kinder nach Angehörige­n, via oesterreic­hfindeteuc­h.at läuft die Suche nach Vermissten.

Angehörige können sich dazu an den Verein wenden, Mader prüft die Informatio­nen, auch durch seinen Draht zu Ermittlern, unterstütz­t bei der Suche, stellt Kontakte her, bittet die OnlineComm­unity um Mithilfe. „Ermittlung­en sind Sache der Polizei, aber wir können Hinweise liefern“, sagt er. Die Zeit, die Polizisten mitunter fehlt, kann er sich nehmen – und bei langen Gesprächen mit Angehörige­n würden sich mitunter Hinweise ergeben: zum Beispiel, dass jemand vor Monaten eine größere Summe abgehoben oder immer von einem bestimmten Ort geredet hat.

8000 Abgängige pro Jahr, 22 pro Tag – doch das klingt dramatisch­er, als es ist. Die Lage in Österreich ist gut – das ändert aber nichts an den vielen persönlich­en Tragödien.

Wie FŻcebook-Detektive helfen. Hinweise kommen aber auch über Facebook: „Ich bin angenehm überrascht, wie die Community mitlebt“, sagt Mader – die Aufrufe erreichen zum Teil Zigtausend­e Menschen. Überwiegen­d seien es Frauen, wie immer bei Vermissten­fällen, Hobbydetek­tive oder Leute aus dem Umfeld der Betroffene­n. „Im Fall von Walther H., der vor Kurzem gefunden wurde, konnten wir massiv mithelfen.“Der 70-Jährige war seit Mai 2015 abgängig, seine Leiche wurde, vergraben in einem Waldstück, am Zirbitzkog­el in der Steiermark gefunden. Dass schließlic­h zwei Tatverdäch­tige verhaftet wurden, sei auch den Hinweisen aus der Community und dem Verein zu verdanken.

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Stanislav Jenis Christian Mader, Ermittler im Bundeskrim­inalamt und Buchautor („Vermisst“, Verlag Amalthea), sucht mittlerwei­le auch via den privaten Verein „Österreich findet euch“nach Abgängigen.
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