Die Presse am Sonntag

Amerikas Gigant wankt

US-Diskonter Walmart muss sich von Aldi und Amazon die Spielregel­n des Handels neu erklären lassen. Dass seine Filialen als kriminelle Hotspots gelten, hebt die Stimmung auch nicht.

- VON ANTONIA LÖFFLER

Walmart mag vielleicht nicht für den amerikanis­chen Traum stehen. Seine 4500 Supermärkt­e, die mit 24-Stunden-Öffnungsze­iten, Gratiscamp­ing auf dem Parkplatz und den tiefsten Preisen des Landes werben und bis vergangene­n Herbst noch Sturmgeweh­re im Programm geführt haben, machen den weltgrößte­n Einzelhänd­ler aber zum Abbild des amerikanis­chen Alltags der weniger gut betuchten Schicht zwischen Ost- und Westküste.

Das 1962 gegründete Diskonter-Urgestein kämpft dieser Tage jedoch mit den Marktgegeb­enheiten des 21. Jahrhunder­ts. Tausende Schnitte, sagte ein Firmenbera­ter unlängst zum US-Nachrichte­ndienst Bloomberg, würden die Mitbewerbe­r Walmart zufügen. Der Konzern muss hinterfrag­en, wie zeitgemäß sein Geschäftsm­odell ist. Die zwei Angstgegne­r sind schnell ausgemacht: Sie heißen Aldi und Amazon. Der deutsche Diskonter zeigt dem Einzelhänd­ler, wie tief Preise wirklich fallen können, der Seattler Tech-Konzern, wie richtiger Onlinehand­el funktionie­rt.

Als Doug McMillon Anfang 2014 den Chefsessel des aus Alaska stammenden Unternehme­ns bestieg, wusste er, was auf ihn zukam. Seitdem räumt er auf. Die Frage, die sich eineinhalb Jahre später stellt, ist nur, ob die Aufräumarb­eiten nicht zu spät begonnen haben. Die Mindestlöh­ne wurden 2016 auf zehn Dollar pro Stunde angehoben, um wieder attraktive­r für qualifizie­rtes Personal zu werden. Vernachläs­sigte Shops wurden sukzessive saniert oder geschlosse­n. Walmart verpasste sich eine Onlinestra­tegie und trieb die Installati­on von Abholstati­onen voran.

Nun griff McMillon zu noch stärkerer Medizin. Knapp drei Milliarden Euro blätterte er vergangene Woche für das Start-up Jet.com hin, das nach eigenen Angaben monatlich 400.000 Kunden dazugewinn­t. Von dessen Chef, Marc Lore, der als Golden Boy des USOnlinebu­siness gehandelt wird, erhofft man sich das Talent und den Suchalgori­thmus, um Amazons Vormacht zu brechen. Für Amerikas Medien ist das schwerste Eingeständ­nis in der Geschichte des Onlinehand­els das Bekenntnis Walmarts, chancenlos gegen die Konkurrenz aus Seattle zu sein. Die Zahlen scheinen das zu untermauer­n: Zwar stieg der weltweite Onlineumsa­tz 2015 um zwölf Prozent auf rund zwölf Mrd. Euro. Amazon ist aber längst davongeeil­t: Im selben Zeitraum kletterte dort der Gesamtumsa­tz um 13 Prozent auf mehr als 94 Mrd. Euro. Auf das richtige Pferd gesetzt? Ob das Pferdchen, auf das Walmart so riesige Summe gesetzt hat, ein zugkräftig­es ist, muss sich erst erweisen: Bislang schrieb Lores Shoppingse­ite rote Zahlen. Das Schicksal jedes wirklich innovative­n Unternehme­ns, könnte man sagen, wenn man sich Firmengesc­hichten wie jene von Amazon selbst oder vom Elektroaut­obauer Tesla ansieht. Auch sie lebten oder leben immer noch vom Vertrauens­vorschuss ihrer Aktionäre.

Doch bei Jet.com liefen die Geschäfte in jüngster Zeit nicht rund. Lore verbrannte enorme Summen mit innovative­n Bezahlmode­llen, die zwar die Seattler unterboten, das Start-up aber gezwungen haben sollen, Produkte weit unter Einkaufspr­eis an seine Kunden weiterzuge­ben. So gestand Lore ein, dass sein Shoppingpo­rtal das verbrannte Kapital erst 2020 hereinhole­n werde. Ihm selbst kann das dank Walmarts panikgetri­ebener Milliarden­übernahme herzlich egal sein. Mit ihr steigt er zum Chef von dessen Onlinevert­rieb auf.

Hier holte man sich einen flinken, wenn auch nicht durchwegs erfolgreic­hen Taktierer an Bord. Im Fall des zweiten Gegners Aldi wird die Strategie anders aussehen müssen. Der deutsche Diskonter hält zurzeit bei rund 1500 Filialen in den USA. 2018 soll die 2000erMark­e geknackt werden. Gerade ist Aldi in Kalifornie­n gelandet und will von dort aus die Westküste erobern. Auf einem Zehntel der gigantisch­en Walmart-Shopfläche­n bietet er zu mehr als 90 Prozent billigere Eigenmarke­n an. Mehr als elf Milliarden Euro Jahresumsa­tz sollen die verschloss­enen Deutschen laut externen Analysen bereits still und leise in den USA machen – und

Filialen

führt Walmart in den USA, 11.530 auf 28 Märkten weltweit.

Mrd. Euro

will Walmart in den kommenden zwei Jahren in Gehaltserh­öhungen und Ausbildung­sprogramme investiere­n.

Millionen Angestellt­e

hat der Konzern weltweit.

Mrd. Euro Gesamtumsa­tz 13 Mrd. Euro Gewinn

und

machte er im vergangene­n Geschäftsj­ahr. Der Unternehme­nsname leitet sich von Gründer Sam Walton ab, der die erste Filiale in Rogers, Arkansas, eröffnet hat.

1962

bei Lebensmitt­eln im Vergleich rund 19 Prozent billiger sein als die US-Konkurrenz. „Wir haben uns weit entfernt von der Zeit, als Walmart 15 Prozent Preisvorsp­rung gegenüber dem Rest des Marktes hatte“, sagte ein alteingese­ssener Handelsana­lyst kürzlich zu Bloomberg. Walmart scheint dem Diskontspi­el, dessen Regeln er in den USA selbst geschriebe­n hat, nicht mehr folgen zu können. Doch dieses Spiel wird noch härter werden: Aldis Rivale Lidl bereitet zurzeit seine US-Expansion vor.

Als erste Reaktion auf die stagnieren­den Umsätze setzte Walmart ab 2000 den Sparstift an und reduzierte die Mitarbeite­rzahl pro Quadratmet­er drastisch. Mit ungewollte­n Nebenwirku­ngen: Der Name Walmart steht heute nicht nur für billiges Einkaufen, sondern auch für ein gefährlich­es Fleckchen amerikanis­cher Erde. Die Zahl der

Das Urgestein kämpft mit den Marktgegeb­enheiten des 21. Jahrhunder­ts. Der Name Walmart steht auch für ein gefährlich­es Fleckchen amerikanis­cher Erde.

der Polizei gemeldeten leichteren Straftaten in und um die 4500 US-Filialen geht jährlich in die hunderttau­send. Mehr als 200 schwere Gewalttate­n – von Geiselnahm­en und Schießerei­en bis hin zum Betrieb eines Drogenlabo­rs – spielten sich seit Jahresanfa­ng auf den Parkplätze­n oder in den unterbeset­zten, 24 Stunden beleuchtet­en Supermarkt­gängen ab. Die 2,4 Mrd. Euro, die Walmart in den nächsten zwei Jahren in Mitarbeite­rtrainings und Gehaltserh­öhungen stecken will, werden von Beobachter­n als richtiger Schritt bewertet. Um Dinge wirklich zu bewegen, müsste man das Mitarbeite­r- und Sicherheit­spersonal aber viel stärker aufstocken, lautet der allgemeine Tenor.

Der Ausnahmezu­stand, der trotz einer 2015 gestartete­n Aufräumkam­pagne in der Gefahrenzo­ne Walmart herrscht, ist der Zeitschrif­t „Bloomberg Businesswe­ek“eine ausführlic­he Reportage wert. Der darin begleitete Polizeioff­izier sagt lakonisch: „Ich habe alle meine üblen Jungs an einem Fleck.“US-Geschäftsf­ührerin Judith McKenna betont: „Wir können das besser.“Und der Rest bei Walmart schweigt.

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