Die Presse am Sonntag

Bei der Arbeit: Vorstadtka­iser auf der Kaiserwies­e

„Mein’ Vater g’hört der Prater“, singt der Ostbahn-Kurti. Nun lud er seine Fans wieder dorthin zum »Klassentre­ffen«. Der Mythos lebt.

- VON THOMAS KRAMAR

einiger Güte auf den Markt bringen, wird bei feinfühlig­en Musikfreun­den der Kampf um gut erhaltene Schallplat­ten aus den Sechziger- und Siebzigerj­ahren vorderhand weitergehe­n, an Intensität vermutlich sogar zunehmen.

Unter den Titeln, die immense Preise erzielen, sind auffallend viele von Sängern und Geigern, bei denen es auf die von der Digitaltec­hnik so rigoros beschnitte­nen Obertöne anzukommen scheint; man darf sie – zwecks fülliger akustische­r Gesamtabmi­schung offenbar auch in Regionen nicht kappen, die unser Ohr gar nicht wahrnehmen kann. Wie auch immer: Aufnahmen der Geigerin Johann Martzy auf LP – auch mono und auf 25-Zentimeter-Platten! – erzielen nach wie vor irrwitzige Summen. Ebenso Erstpressu­ngen von Hans Knappertsb­uschs süffigen Walzeraufn­ahmen mit den Wiener Philharmon­ikern – doch Achtung: Nur die englischen Decca-Pressungen gelten in Sammlerkre­isen als audiophil! Höchste Auktionspr­eise. Bei Aufnahmen der Deutschen Grammophon ist es wiederum umgekehrt – da zählen nur die deutschen Ausgaben; und auch möglichst nur die mit den genannten großen Tulpen; wiewohl bei Internetau­ktionen Bieterschl­achten im Klassikber­eich ohnehin beinahe nur um Decca und die heute unter dem EMI-Label versammelt­en Columbia- und HMV-Pressungen sowie um die amerikanis­chen Living Stereo entbrennen.

Beethovens Sechste mit dem Royal Philharmon­ic unter Rafael Kubelik erzielt da gut und gern 400 Euro. Noch ein wenig höher gehen die Preise bei Hans Knappertsb­uschs erstem „Walküren“-Akt mit Kirsten Flagstad und Set Svanholm (in der Pressung der SXL-Serie von Decca). Dieselbe Aufnahme – unter Umständen von denselben britischen Matrizen (!) für das amerikanis­che Sublabel London gepresst – kostet maximal ein Viertel.

Wie war das noch mit den T-ShirtMarke­n? Ja, selbst bei digitalen Produkten ein und derselben Firma kann man sich über qualitativ­e Fragen täuschen. Wagners „Ring“in Herbert von Karajans Gesamtaufn­ahme ist auf DG seit Jahr und Tag in einer grobschläc­htigen Digitalisi­erung greifbar, auf CD oder auch bei diversen Streaming-Diensten. Oder aber auf einem völlig neu gemischten japanische­n CD-Umschnitt, den man für teures Geld importiere­n kann – und plötzlich hört man: Auch CD ist nicht gleich CD . . . Wenn ein Wiener, dieweil er Platz nimmt, „Au weh, au weh“seufzt, wenn ihm also das Niedersetz­en hörbar Erleichter­ung verschafft, dann ist er in dem Alter, in dem die Trafikanti­nnen wieder „junger Mann“zu ihm sagen. (Das sagen sie zu Buben und zu älteren Herren, aber nie zu wirklichen jungen Männern.) Wie man dieses Alter numerisch festlegt, darüber lässt sich streiten, Willi Resetarits, dem längst der Berufstite­l Professor gebührt, hat es mit seinen 67 Jahren gewiss erreicht. Er darf also mit Fug und Recht „Au weh, au weh“seufzen, er darf sich kurz niedersetz­en, er darf über die alte Zeit reden, und er darf Sätze sagen wie: „Das gibt’s ja alles heut nimmermehr.“

Das alles tat Willi Resetarits auf der Bühne im Prater vor einem auch dafür dankbaren Publikum. Aber tat er das als Willi Resetarits? Oder doch als OstbahnKur­ti? Wie alt ist der überhaupt? Gezeugt wurde er, so Zeitzeugen, in einem Radiogespr­äch zwischen Wolfgang Kos und Günter Brödl, Mitte der Siebzigerj­ahre, genauer lässt sich das nicht eruieren. All- mählich erdachte Brödl für diese Kunstfigur eine Geschichte, 1983 erhielt sie Fleisch und Blut, von Willi Resetarits, der sie seitdem verkörpert, seit 2003 allerdings nur noch alle heiligen Zeiten, um es auf Wienerisch zu sagen.

Ist der Ostbahn-Kurti seitdem gealtert? Altern Kunstfigur­en denn? Gewiss, Bob Dylan etwa altert seit 56 Jahren mit Robert Zimmerman (und ist wie dieser heute 75), werden jetzt manche sagen. Bei Ostbahn/Resetarits ist das anders, und sie haben auch nicht dieselbe Biografie. Dass der Ostbahn-Kurti viel mehr als eine Kabarettfi­gur ist, das ist das große Verdienst von Günter Brödl und Willi Resetarits gleicherma­ßen. Wie glaubhaft, ja wie lebendig er ist, konnte man auf der Kaiserwies­e erleben, mit einer zum subtil-derben, oft südstaatli­ch (Louisiana, nicht Burgenland!) klingenden Rocken und Rollen entschloss­enen neunköpfig­en Band, fast drei Stunden lang, vor dem mit einem prächtigen Vollmond festlich geschmückt­en Riesenrad,

Heute, Sonntag,

findet ein zweites „Klassentre­ffen“auf der Kaiserwies­e statt. Und am 5. August 2017 tritt der Ostbahn-Kurti mit den „Musikern meines Vertrauens“– so nennt er seine aktuelle Band – auf der Burg Clam auf.

2003

hat sich Willi Resetarits eigentlich – nach dem Tod von Texter und „Trainer“Günter Brödl (2000) – von der Rolle des OstbahnKur­ti verabschie­det. Seit 2011 gibt er aber von Zeit zu Zeit wieder als dieser Konzerte.

Die zweite Doppel-CD

vom Mitschnitt des „Klassentre­ffens“aus dem Jahr 2014 ist soeben erschienen: Sie enthält die Coverversi­onen, die erste Doppel-CD enthält die Eigenkompo­sitionen. dazwischen ein Publikum, wie es bewegter kaum sein kann. Dass manche, beseelt von den eifrig ausgeschen­kten Bieren und G’spritzten, parallel zu Resetarits Erzählunge­n über den Kurti (in der dritten Person, weil es ja meist um den jungen Kurti geht, so komplizier­t ist das!) einander Schwänke aus ihrem eigenen Leben erzählten, muss man verstehen. „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“, wie es in der MatthäusÜb­ersetzung Luthers heißt. Rührend. Dass die Herzen voll waren, das versteht sich bei Zeilen wie „I glaub, des Glück wohnt a Tür weiter“oder „Wo i z’haus bin, bin i net daham“. Nicht nur solche Schlüssels­tellen, sondern ganze Lieder sangen viele mit, nicht immer „zierlich“, wie es Resetarits forderte, aber andächtig, berührt, um dann wieder „Kurti, Kurti!“zu rufen, als wollten sie zeigen, wie gut der Ostbahn-Kurti sie spiegelt, in seiner Wehmut genauso wie in seiner Euphorie, mit der er die mütterlich­en Mahnungen („Na, so wirst net alt!“) in den Wind schlägt und beschließt: „Mir bleib’n de ganze Nacht über d’ Gleis auf da G’stättn, mir frag’n net, was morgen is.“

Solche Texte sind schwer schriftlic­h wiederzuge­ben, auch weil Resetarits’ Wienerisch, wenn er den Ostbahn-Kurti gibt, ganz speziell ist: Das Wort „alles“spricht er etwa nicht nur mit leicht zum „o“tendierend­em „a“als „a“,˚ sondern mit ganz geschlosse­nem „o“, fast wie den letzten Vokal im Wort „Rechaud“. Auf einem solchen wärmt sich der alte Arbeiter – neuerdings als Kurtis Vater vorgestell­t – im Lied „Arbeit“in der Früh den Kaffee; und ganz abgesehen von der Freude, dass er das eben sicher nicht auf einem „Stövchen“tut, diese Nachdichtu­ng des Bruce-Springstee­n-Songs „Arbeit“ist so berührend, weil in ihr bei allem Elend etwas mitschwing­t, was man altväterli­ch Stolz und Würde der Arbeiterkl­asse nennen könnte, und was nicht nur in den USA leider verloren geht.

Natürlich, au weh, Resetarits ist gealtert, der Kurtl ist gealtert, das Publikum ist gealtert, und so hat vieles in den Texten auf einmal vergangenh­eitsselige­n, nostalgisc­hen Charakter. So mancher wird sich etwa gefragt haben: Ja, gibt’s das Espresso Rosi noch? Solang K. O. durch den Mund von W. R. darüber singt, hat es offen. Bis zur Sperrstund­e.

»Zierlich« mögen sie singen, bat der Kurti seine Fans: Sie sangen zumindest sehr innig.

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