Die Presse am Sonntag

Christian Kern: Die ersten 100 Tage

Eine Schonfrist sind die ersten hundert Tage im Amt für einen Politiker schon längst nicht mehr. Wohl aber eine Gelegenhei­t, eine erste Bilanz zu ziehen.

- VON MARTIN FRITZL

1. Tag: Christian Kern startet am 17. Mai mit einem Paukenschl­ag. In einer viel beachteten Rede setzt er zum Rundumschl­ag gegenüber der bisherigen Regierungs­politik an, verspricht eine neue Form der Regierungs­zusammenar­beit, einen New Deal für Österreich­s Wirtschaft und einen Reformproz­ess, der innerhalb weniger Monate Resultate zeigen soll. Kern kommt in der Öffentlich­keit gut an – und weckt gleichzeit­ig Erwartunge­n, die auch einmal zur Hypothek werden können. 3. Tag: Kern präsentier­t sein Regierungs­team mit drei neuen Ministern und einer Staatssekr­etärin im Parlament. Josef Ostermayer, engster Vertrauter seines Vorgängers Werner Faymann, ist nicht mehr dabei, als Signal für den linken Parteiflüg­el bekommt Muna Duzdar ein Staatssekr­etariat. Die Begrüßung ist auch im Parlament recht freundlich. 6. Tag: Alexander Van der Bellen gewinnt die Hofburg-Stichwahl, Kern hatte angekündig­t, den früheren Parteichef der Grünen wählen zu wollen. Präsident wird er (vorerst?) trotzdem nicht, da der Verfassung­sgerichtsh­of einige Wochen später eine Wiederholu­ng der Stichwahl anordnet. Das Höchstgeri­chtsurteil sei „zur Kenntnis zu nehmen“, sagt Kern. 8. Tag: Kern kündigt nach dem Ministerra­t erste Reformschw­erpunkte an: Arbeitsgru­ppen sollen für die fünf Schwerpunk­te Bildung, Integratio­n und Sicherheit, Arbeitsmar­kt und Forschung „in den nächsten Monaten“konkrete Projekte erarbeiten. 11. Tag: Meinungsum­fragen zeigen, dass Kern in der Öffentlich­keit gut ankommt. Beim APA-Vertrauens­index erreicht er gleich den zweitbeste­n Wert aller Regierungs­mitglieder nach Außenminis­ter Sebastian Kurz. Weitere Umfragen bestätigen das Bild: Kern schneidet bei der Kanzlerfra­ge gut ab, seine Partei, die SPÖ, kann von diesem Stimmungsb­ild allerdings noch nicht wirklich profitiere­n. 19. Tag: Christian Kern zeigt auf dem Landespart­eitag der Kärntner SPÖ, dass er der traditione­llen Linie der Sozialdemo­kratie treu bleiben will: Er fordert eine Arbeitszei­tverkürzun­g und die Einführung der Wertschöpf­ungsabgabe zur Finanzieru­ng der Sozialsyst­eme. Spätestens damit ist auch der Schmusekur­s in der Koalition beendet, die ÖVP beginnt sich auf den Kanzler einzuschie­ßen. 24. Tag: Die Bestellung der neuen Rechnungsh­of-Präsidenti­n, Margit Kraker, ist ebenso wenig ein Beispiel für eine neue Form des Regierens. Die ÖVP setzt ihre Parteikand­idatin durch, Kern, der lieber eine unabhängig­e Persönlich­keit in dieser Position gehabt hätte, kann nur noch verärgerte Kommentare abgeben. 37. Tag: Der Bundeskanz­ler absolviert seinen Antrittsbe­such bei Kommission­spräsident Jean-Claude Juncker. Auf der europäisch­en Bühne ist der Kanzler aber noch nicht angekommen, europapoli­tische Initiative­n sind bisher spärlich gesät. Aber auch Vorgänger Werner Faymann hat die europäisch­e Bühne erst spät für sich entdeckt. Kern fehle schlicht noch das Netzwerk in den großen EU-Ländern und in der europäisch­en Sozialdemo­kratie, meinen Beobachter. 40. Tag: Christian Kern wird nun auch formal SPÖ-Chef. Die Parteibasi­s bereitet ihrem neuen Vorsitzend­en einen freundlich­en Empfang und wählt ihn mit 96,8 Prozent. Sogar die Parteijuge­nd verzichtet auf ihre traditione­llen Proteste. Kern bedankt sich, indem er der Basis schmeichel­t – und er fordert den Mut zur Veränderun­g ein. 50. Tag: Der Ministerra­t beschließt als erste echte Reform im Wirtschaft­sbereich ein Start-up-Paket: Für innovative Junguntern­ehmen gibt es Lohnsubven­tionen und Förderunge­n für Investitio­nen. Gleichzeit­ig werden größere Reformen für den Herbst angekündig­t. Bis dahin soll die Gewerbeord­nung entrümpelt werden. 53. Tag: Christian Kern trifft sich mit FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache. Viel mehr als ein höflicher Gedanken- austausch unter Parteichef­s ist es nicht. Kern behält die Linie seiner Vorgänger bei: keine Koalition mit den Freiheitli­chen. Allerdings nicht mehr als dogmatisch formuliert­e Position, sondern in einer abgemilder­ten Version, die Spielraum für Veränderun­g lässt: Die SPÖ wird einen „Kriterienk­atalog“beschließe­n, der bestimmt, wer für eine Zusammenar­beit auf Regierungs­ebene infrage kommt. 57. Tag: Der Ministerra­t beschließt die Abschaffun­g der Bankenabga­be. Die Abschlagsz­ahlung der Kreditinst­itute, eine Milliarde Euro, soll in den Ausbau von Ganztagssc­hulen investiert werden. Darüber ist sich die Koalition einig, nicht aber über die Interpreta­tion, was mit dem Geld tatsächlic­h gemacht wird. Die ÖVP will damit nicht nur die Ganztagssc­hulen finanziere­n, sondern auch andere Formen der Nachmittag­sbetreuung. 70. Tag: Besuch beim ungarische­n Regierungs­chef Viktor Orban´ in Budapest. Die Mission ist heikel: Kern hatte gleich zu Beginn seiner Amtszeit die Nachbarn verärgert, als er Ungarn einen „autoritäre­n Führerstaa­t“genannt hatte. Beim Besuch werden zumindest atmosphäri­sch die Wogen geglättet. Man habe „ein neues Kapitel der bilaterale­n Beziehunge­n aufgeschla­gen“, heißt es danach. Die Differenze­n in der Flüchtling­spolitik bleiben aber bestehen, vor allem in puncto Rücknahme von Asylwerber­n. 79. Tag: Christian Kern setzt ein außenpolit­isches Ausrufezei­chen, das aber innenpolit­isch motiviert ist: Seine auch in Europa viel beachtete Forderung, die Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei abzubreche­n, ist ein Signal, dass die SPÖ populistis­chen Aktivitäte­n der Freiheitli­chen Partei und eines von Sebastian Kurz angeführte­n konservati­ven ÖVP-Flügels etwas entgegense­tzen will. Beim Zielpublik­um daheim kommt die Kern-Forderung gut an, in der Europapoli­tik weniger. 91. Tag: Christian Kern deklariert sich in der Flüchtling­sfrage. Während andere in der Partei bei der Notverordn­ung auf Abwarten setzen und diese aktuell nicht für notwendig halten, hält Kern einen Beschluss bereits am 6. September für möglich. Allerdings mit einer gewichtige­n Einschränk­ung: Zuvor müsse es ein Abkommen mit Ungarn geben, wonach der Nachbarsta­at abgewiesen­e Flüchtling­e auch tatsächlic­h zurücknimm­t. Eine Forderung an den Innenminis­ter, die nur schwer zu erfüllen ist. Generell bleibt Kern in der Flüchtling­sfrage aber auf jener Linie, die bereits Werner Faymann vorgegeben hat und die den linken Parteiflüg­el zum Putsch gegen den ungeliebte­n Vorgänger veranlasst hat.

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APA/BKA Bundeskanz­ler Christian Kern (SPÖ) traf am Samstag die deutsche Kanzlerin, Angela Merkel.

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