Die Presse am Sonntag

Das Tabu der verlorenen Orte

In DeutschlŻn© empfehlen Ökonomen »PŻlliŻtivm­e©izin« für schrumpfen©e St´©te. Sie hŻãen keine ChŻnce, weil sich ©ie Jüngeren immer st´rker in wenigen »SchwŻrmst´©ten« zusŻmmenro­tten. In ©er Schweiz geht es um entvölkert­e Alpent´ler. Der Tenor: Wer AãwŻn©e

- VON KARL GAULHOFER

Im Süden Sachsens, an der tschechisc­hen Grenze, gibt es einen kleinen Weiler. Aber wohl nicht mehr lang: Nur noch zwei alte Frauen wohnen dort. Die Zufahrtstr­aße zum Dörfchen, das seine guten Zeiten lang hinter sich hat, führt über eine kleine Brücke. Sie wurde unlängst für stolze 600.000 Euro erneuert. Einzige Begründung: der Müll-Lkw, der einmal im Monat kommt. Seine Last müsse die Brücke sicher tragen, deshalb sei die Renovierun­g vonnöten. Der Bevölkerun­gsökonom Harald Simons nennt das absurd. Hätte man nicht auch organisier­en können, dass ein Kleinwagen den Müll bis über die Brücke bringt?

Hinter der kleinen Anekdote verbirgt sich ein großes Thema: Deutschlan­d schrumpft. Es werden viel zu wenige Kinder geboren, um die Bevölkerun­g langfristi­g konstant zu halten. Auch die Flüchtling­swelle des Vorjahres, die über eine Million zusätzlich­e Menschen ins Land gebracht hat, ändert daran auf Dauer nichts. Dazu kommt, dass es die Jungen scharenwei­se an einige wenige Orte zieht. Während sich Berlin, München und Hamburg, aber auch kleinere Städte wie Re-

Prozent

seiner Bewohner hŻt ©er Bezirk MurŻu seit 2002 verloren. Ähnlich hohe Rückg´nge hŻben ©ie Bezirke Leoben un© Bruck Żn ©er Mur mit run© sieben Prozent.

„SchwŻrmst´©te“

mit einer sehr hohen KonzentrŻt­ion von jungen Menschen gibt es in DeutschlŻn©, von 2059 St´©ten insgesŻmt. In ©iesen wohnen 25 Prozent ©er GesŻmtbevö­lkerung. gensburg oder Münster des Andrangs kaum erwehren können und dort die Wohnungspr­eise in die Höhe schnellen, entvölkern sich ganze Landstrich­e. Demografen und Ökonomen sind sich ziemlich einig, wie man den Schrumpfun­gsprozess in struktursc­hwachen Regionen vernünftig organisier­t: Nicht mit der Gießkanne jeder ausblutend­en Kommune unter die Arme greifen, sondern jene Orte identifizi­eren, die noch Potenzial haben – und dort die Mittel konzentrie­ren. Für den Rest heißt das: sich darauf einstellen, dass die Zahl der Bewohner zurückgeht, und nur noch das Nötigste investiere­n.

Aber als Simons als Gutachter für das Land Sachsen im Juni von „Palliativm­edizin“sprach, war der Aufschrei in Medien und Politik groß. Dabei ist das Thema gerade in Ostdeutsch­land alles andere als neu. Teures Lehrgeld hat man dort schon vor zwanzig Jahren gezahlt. Nach der Wende flossen Unsummen in den „Stadtaufba­u Ost“. Plattenbau­ten an den Stadtrände­rn wurden aufwendig saniert – und einige Jahre später abgerissen, weil dort niemand mehr leben wollte. Das brachte das Bundesland Brandenbur­g später dazu, aus 40 Städten 13 „Wachstumsk­erne“auszuwähle­n, um sie gezielt zu fördern. Den übrigen kürzte die Landesregi­erung Mittel, dem Aufschrei der Bürgermeis­ter zum Trotz.

Auch die Schweiz diskutiert seit über zehn Jahren ähnliche Themen. Nur geht es nicht um Städte, sondern um halb verlassene Alpentäler. Ende Juli machte Andreas Züllig, Präsident der Hotelierve­reinigung, einen neuen Anlauf: „Wir können nicht mehr jedes Tal mit dem öffentlich­en Verkehr erschließe­n, Brücken bauen für 200 Einwohner.“Stattdesse­n will auch er Mittel auf touristisc­he „Entwicklun­gsräume“konzentrie­ren. Was einmal mehr eine intensive Debatte ausgelöst hat.

Und in Österreich? Gibt es keinen Aufschrei, weil es keine Diskussion gibt. Dabei sind die Rahmenbedi­ngungen vergleichb­ar: Die Geburtenra­te ist so niedrig wie in Deutschlan­d. Und schrumpfen­de Regionen gibt es auch hierzuland­e: die Mur-Mürz-Furche, Oberkärnte­n, Tiroler Täler oder das Waldvierte­l. In aller Munde ist nur der Extremfall Eisenerz: Das steirische Städtchen hat allein seit 2002 fast ein Drittel seiner Einwohner verloren.

Wie akut das Thema Binnenmigr­ation auch bei uns noch werden dürfte, zeigt Simons’ genauere Analyse. Er setzt am anderen Ende an: bei den „Schwarmstä­dten“, den großen demografis­chen Gewinnern. Sie sind ein neues Phänomen. Sicher: Seit jeher ziehen die Menschen vom Land in die Stadt, wenn sie dort leichter Arbeit finden. Für Migranten sind Metropolen bevorzugte Zielorte, weil sie dort auf Netzwerke von Landsleute­n treffen. Aber die großen Verschiebu­ngen gehen in Deutschlan­d von den jüngeren Einheimisc­hen aus. Die Quote der Studienanf­änger pro Jahrgang stieg von der Jahrtausen­dwende bis 2013 steil an, von 29 auf 53 Prozent. Gewinnen also einfach die Universitä­tsstädte? Nicht unbedingt. Hochschule­n sind über das ganze Land verteilt, viele Absolvente­n ziehen nach dem Studium zurück oder weiter. Für die stärksten Wanderungs­bewegungen sorgen die typischen Berufseins­teiger zwischen 25 und 34. Am Ende zieht es einen großen Teil in nur wenige Schwarmstä­dte. Die Kinder, die sie dort gebären, verstärken die Konzentrat­ion weiter.

Durch nie©rige GeãurtenrŻ­ten fehlt vielen Orten ©ie kritische MŻsse Żn jungen Leuten.

Folge ©es Pillenknic­ks. Für dieses Schwarmver­halten hat Simons nun eine plausible Erklärung gefunden. Es setzt nämlich erst mit den Kohorten ein, die nach dem Pillenknic­k geboren sind. Was der 47-Jährige anhand seiner eigenen Biografie deutet: Seine Heimatstad­t, Bingen am Rhein, hat rund 24.000 Einwohner. „Als ich Anfang zwanzig war, war dort noch genug los: Ich hatte viele gleichaltr­ige Freunde, es gab Kneipen und Kinos.“Heute sind fast alle geschlosse­n, „weil die jungen Jahrgänge zu dünn besetzt sind“.

Es fehlt die Dichte, die kritische Masse, um solche Angebote rentabel zu machen. Deshalb muss sich die schrumpfen­de Minderheit der Jüngeren an immer weniger Wohnorten zusammenro­tten, um noch auf ihresgleic­hen zu treffen. Dafür wählen sie Metropolen oder kleine, historisch­e Städte mit angenehmer Atmosphäre. Hier schließt sich der Kreis zu den „Verlierers­tädten“: Der Trend ist viel zu stark und verfestigt, als dass er sich +21 % +21 % +16 % +15 % +14 % +22 % −12 % −8 % −9 % −8 % −22 % −17 % −32 %

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