Das Tabu der verlorenen Orte
In DeutschlŻn© empfehlen Ökonomen »PŻlliŻtivme©izin« für schrumpfen©e St´©te. Sie hŻãen keine ChŻnce, weil sich ©ie Jüngeren immer st´rker in wenigen »SchwŻrmst´©ten« zusŻmmenrotten. In ©er Schweiz geht es um entvölkerte Alpent´ler. Der Tenor: Wer AãwŻn©e
Im Süden Sachsens, an der tschechischen Grenze, gibt es einen kleinen Weiler. Aber wohl nicht mehr lang: Nur noch zwei alte Frauen wohnen dort. Die Zufahrtstraße zum Dörfchen, das seine guten Zeiten lang hinter sich hat, führt über eine kleine Brücke. Sie wurde unlängst für stolze 600.000 Euro erneuert. Einzige Begründung: der Müll-Lkw, der einmal im Monat kommt. Seine Last müsse die Brücke sicher tragen, deshalb sei die Renovierung vonnöten. Der Bevölkerungsökonom Harald Simons nennt das absurd. Hätte man nicht auch organisieren können, dass ein Kleinwagen den Müll bis über die Brücke bringt?
Hinter der kleinen Anekdote verbirgt sich ein großes Thema: Deutschland schrumpft. Es werden viel zu wenige Kinder geboren, um die Bevölkerung langfristig konstant zu halten. Auch die Flüchtlingswelle des Vorjahres, die über eine Million zusätzliche Menschen ins Land gebracht hat, ändert daran auf Dauer nichts. Dazu kommt, dass es die Jungen scharenweise an einige wenige Orte zieht. Während sich Berlin, München und Hamburg, aber auch kleinere Städte wie Re-
Prozent
seiner Bewohner hŻt ©er Bezirk MurŻu seit 2002 verloren. Ähnlich hohe Rückg´nge hŻben ©ie Bezirke Leoben un© Bruck Żn ©er Mur mit run© sieben Prozent.
„SchwŻrmst´©te“
mit einer sehr hohen KonzentrŻtion von jungen Menschen gibt es in DeutschlŻn©, von 2059 St´©ten insgesŻmt. In ©iesen wohnen 25 Prozent ©er GesŻmtbevölkerung. gensburg oder Münster des Andrangs kaum erwehren können und dort die Wohnungspreise in die Höhe schnellen, entvölkern sich ganze Landstriche. Demografen und Ökonomen sind sich ziemlich einig, wie man den Schrumpfungsprozess in strukturschwachen Regionen vernünftig organisiert: Nicht mit der Gießkanne jeder ausblutenden Kommune unter die Arme greifen, sondern jene Orte identifizieren, die noch Potenzial haben – und dort die Mittel konzentrieren. Für den Rest heißt das: sich darauf einstellen, dass die Zahl der Bewohner zurückgeht, und nur noch das Nötigste investieren.
Aber als Simons als Gutachter für das Land Sachsen im Juni von „Palliativmedizin“sprach, war der Aufschrei in Medien und Politik groß. Dabei ist das Thema gerade in Ostdeutschland alles andere als neu. Teures Lehrgeld hat man dort schon vor zwanzig Jahren gezahlt. Nach der Wende flossen Unsummen in den „Stadtaufbau Ost“. Plattenbauten an den Stadträndern wurden aufwendig saniert – und einige Jahre später abgerissen, weil dort niemand mehr leben wollte. Das brachte das Bundesland Brandenburg später dazu, aus 40 Städten 13 „Wachstumskerne“auszuwählen, um sie gezielt zu fördern. Den übrigen kürzte die Landesregierung Mittel, dem Aufschrei der Bürgermeister zum Trotz.
Auch die Schweiz diskutiert seit über zehn Jahren ähnliche Themen. Nur geht es nicht um Städte, sondern um halb verlassene Alpentäler. Ende Juli machte Andreas Züllig, Präsident der Hoteliervereinigung, einen neuen Anlauf: „Wir können nicht mehr jedes Tal mit dem öffentlichen Verkehr erschließen, Brücken bauen für 200 Einwohner.“Stattdessen will auch er Mittel auf touristische „Entwicklungsräume“konzentrieren. Was einmal mehr eine intensive Debatte ausgelöst hat.
Und in Österreich? Gibt es keinen Aufschrei, weil es keine Diskussion gibt. Dabei sind die Rahmenbedingungen vergleichbar: Die Geburtenrate ist so niedrig wie in Deutschland. Und schrumpfende Regionen gibt es auch hierzulande: die Mur-Mürz-Furche, Oberkärnten, Tiroler Täler oder das Waldviertel. In aller Munde ist nur der Extremfall Eisenerz: Das steirische Städtchen hat allein seit 2002 fast ein Drittel seiner Einwohner verloren.
Wie akut das Thema Binnenmigration auch bei uns noch werden dürfte, zeigt Simons’ genauere Analyse. Er setzt am anderen Ende an: bei den „Schwarmstädten“, den großen demografischen Gewinnern. Sie sind ein neues Phänomen. Sicher: Seit jeher ziehen die Menschen vom Land in die Stadt, wenn sie dort leichter Arbeit finden. Für Migranten sind Metropolen bevorzugte Zielorte, weil sie dort auf Netzwerke von Landsleuten treffen. Aber die großen Verschiebungen gehen in Deutschland von den jüngeren Einheimischen aus. Die Quote der Studienanfänger pro Jahrgang stieg von der Jahrtausendwende bis 2013 steil an, von 29 auf 53 Prozent. Gewinnen also einfach die Universitätsstädte? Nicht unbedingt. Hochschulen sind über das ganze Land verteilt, viele Absolventen ziehen nach dem Studium zurück oder weiter. Für die stärksten Wanderungsbewegungen sorgen die typischen Berufseinsteiger zwischen 25 und 34. Am Ende zieht es einen großen Teil in nur wenige Schwarmstädte. Die Kinder, die sie dort gebären, verstärken die Konzentration weiter.
Durch nie©rige GeãurtenrŻten fehlt vielen Orten ©ie kritische MŻsse Żn jungen Leuten.
Folge ©es Pillenknicks. Für dieses Schwarmverhalten hat Simons nun eine plausible Erklärung gefunden. Es setzt nämlich erst mit den Kohorten ein, die nach dem Pillenknick geboren sind. Was der 47-Jährige anhand seiner eigenen Biografie deutet: Seine Heimatstadt, Bingen am Rhein, hat rund 24.000 Einwohner. „Als ich Anfang zwanzig war, war dort noch genug los: Ich hatte viele gleichaltrige Freunde, es gab Kneipen und Kinos.“Heute sind fast alle geschlossen, „weil die jungen Jahrgänge zu dünn besetzt sind“.
Es fehlt die Dichte, die kritische Masse, um solche Angebote rentabel zu machen. Deshalb muss sich die schrumpfende Minderheit der Jüngeren an immer weniger Wohnorten zusammenrotten, um noch auf ihresgleichen zu treffen. Dafür wählen sie Metropolen oder kleine, historische Städte mit angenehmer Atmosphäre. Hier schließt sich der Kreis zu den „Verliererstädten“: Der Trend ist viel zu stark und verfestigt, als dass er sich +21 % +21 % +16 % +15 % +14 % +22 % −12 % −8 % −9 % −8 % −22 % −17 % −32 %