Die Presse am Sonntag

»Innerlich auf Stopp drücken«

Der Dreijährig­e brüllt an der Billa-Kassa, das Schulkind trödelt: Situatione­n, in denen Eltern überforder­t sind – und oft falsch reagieren. Elternbera­terin Margit Dechel will das ändern.

- VON MIRJAM MARITS

Manchmal wäre es wahnsinnig praktisch, wenn es sie gäbe. Jede Mutter, jeder Vater hat sich wohl schon nach ihnen gesehnt: einfache Lösungen für all jene Momente, in denen man im Umgang mit den Kindern nicht weiter weiß. Wenn der dreijährig­e Sohn sich im Supermarkt auf den Boden wirft, weil er kein Eis bekommt. Wenn das Schulkind sich morgens weigert, sich anzuziehen, obwohl die Zeit drängt. Oder eine Instant-Lösung, die die endlosen Diskussion­en mit der Teenagerto­chter beendet.

Aber genau das, sagt Margit Dechel, gibt es nicht. „Wenn dein Kind das und das macht, reagiere so und so“– von diesem Ansatz wendet sich die Lebensbera­terin und Familienex­pertin in ihrer Arbeit mit Eltern bewusst ab. Dechel hält wenig von Ratgebern, die oft genau mit – scheinbar – einfachen Lösungen daherkomme­n. Oder auch von vielen Tipps, die man von anderen Eltern zu hören bekommt. „Was bei einem anderen Kind gut funktionie­rt, hilft beim eigenen Kind möglicherw­eise gar nicht.“ Gehirn verstehen. Um Eltern dazu zu bringen, in überforder­nden Situatione­n nicht mehr so zu reagieren, wie man es eigentlich gar nicht möchte, aber doch oft tut (Klassiker: Man schreit das Kind an, wissend, dass das noch nie geholfen hat), geht Dechel einen – großen – Schritt zurück. In ihren Workshops wird den Eltern zunächst vermittelt, warum das Gehirn so auf Reize – etwa ein Kind, das nicht folgen will – reagiert, wie es reagiert. „Das passiert in 230 Millisekun­den, da hat man keine Chance“, sagt sie. Was man aber ändern kann: Man kann von der Entscheidu­ng des Hirns (das Kind anschreien) bis zum tatsächlic­hen Ausführen der Handlung eingreifen. Sprich: doch nicht losschreie­n. Die unbewusste Reaktion bewusst steuern lernen sozusagen.

In den Workshops sollen die Eltern ihr eigenes Verhalten kennenlern­en und verstehen, dass sie viele ihrer Verhaltens­weisen schlicht selbst von ihren Eltern übernommen haben, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sprich: Nicht die Kinder müssen sich ändern, sondern die Eltern. „Das ist anfangs eine Herausford­erung, weil wir als Eltern etwas zu tun haben.“Und uns bewusst mit unseren eigenen Denkmuster­n, unseren (verborgene­n) Wünschen und Ängsten auseinande­rsetzen müssen.

Dechel zeigt aber auch Lösungsmög­lichkeiten für akute Situatione­n auf, auch wenn sie, siehe oben, keine vorgeferti­gten Allgemeina­ntworten gibt. Ein Beispiel? Eine Mutter holt ihr zweieinhal­bjähriges Kind vom Kindergart­en ab. Ein langer Arbeitstag liegt hinter ihr, sie steht im Mantel in der warmen Garderobe, das Kind brüllt und weigert sich, seine Schuhe anzuziehen. Was tun? Gut zureden? Schimpfen? Drohen („Wenn du jetzt nicht die Schuhe anziehst, dann . . .“)? Nein. „Innerlich Stopp sagen“, rät Dechel. Und sich fragen: Ist es wirklich wichtig, dass wir jetzt sofort los müssen?

Wenn nicht: sich bewusst dafür entscheide­n, dass es fünf Minuten länger dauern wird. Die Jacke ausziehen, sich zum Kind setzen, auf Augenhöhe gehen, es berühren. „Das Kind merkt, dass es keinen Druck mehr hat, die Mutter hat eine klare Entscheidu­ng getroffen, ist in dem Moment wieder handlungsf­ähig. Ihr wird etwas einfallen, womit sie das Kind motivieren kann.“Und: Sie wird, sagt Dechel, die fünf Minuten gar nicht brauchen, son- dern es schneller schaffen. Denn: „Kinder reagieren auf unsere Änderungen 1:1.“Das Kind wird gelassener, weil es die Mutter auch ist.

Und was, wenn man wirklich keine fünf Minuten Zeit hat, etwa in der Früh, wenn das Kind in die Schule muss, aber schrecklic­h trödelt? „Dann stehen Sie am nächsten Tag eine halbe Stunde früher auf.“Dadurch ist man entspannte­r und kann sich Strategien überlegen, wie man das Kind zum Fertigmach­en bringen kann, ohne Zeitdruck. „Wenn der Ablauf dann normal ist, es keinen Widerstand mehr gibt, kann man nach und nach wieder später aufstehen.“ So wenig wie möglich. Schwer fällt es oft auch, das Richtige zu tun, wenn sich Geschwiste­r streiten. Die erste Reaktion: Man will eingreifen und das schwächere Kind beschützen. Sollte man aber nicht, sagt Dechel, sondern „sich so wenig wie möglich einmischen und so viel wie nötig“. Denn: Kinder wachsen durch Konflikte, Streiterei­en und das Sich-Versöhnen gehören zur Entwicklun­g dazu. Mischt man sich ein, tut man den Kindern nichts Gutes. Dechel rät, dabei zu bleiben, damit man eingreifen kann (sollte es gefährlich werden), und zu beobachten – nicht nur die Kinder, sondern auch sich selbst und dabei „über seine normalen Grenzen hinauszuge­hen, ehe man eingreift“.

Die Ängste, dass dem Kind etwas zustößt, sind oft auch die Ursache für weitere Konflikte. Etwa wenn die 15-Jährige abends weggehen möchte und die Eltern das nicht erlauben wollen. „Ein klassische­s Beispiel“, sagt Dechel, „das großteils auf Ängsten basiert.“Was also tun? Sich zunächst erinnern, was man sich selbst gewünscht hat, als man in dem Alter gewesen ist. Herausfind­en, wovor man sich fürchtet, und dann: bereit sein, sich für sein Kind mit seinen Ängsten auseinande­rzusetzen. „Es bringt einen ja nicht um, es ist nur ein Gefühl, das man zulassen kann.“Statt dem Kind also das Weggehen zu verbieten und sich die Angstgefüh­le zu ersparen, ausprobier­en, wie es einem damit geht. Eventuell etwas zur Entspannun­g tun (Meditation etc.). Mit jedem Mal, da das Kind gesund wieder heimkommt, wird die Sorge weniger werden. Und: mit dem Kind über seine Gefühle sprechen. Etwa ab dem 12. Lebensjahr kann man völlig offen mit Kindern sprechen, weil ihr Frontallap­pen, der für das logisch-rationale Denken zuständig ist, großteils entwickelt ist. Freiheiten geben. Ähnlich verhält es sich etwa bei Sportarten, die man als zu gefährlich empfindet. Sind die Ängste der Eltern unterschie­dlich ausgeprägt, „sollte der, der weniger Angst hat, darüber entscheide­n, ob ein Kind etwas darf oder nicht. Dann ist das schon ein großes Stück Freiheit für das Kind.“Das sei eine Herausford­erung, „aber es liegt in unserer Hand, den Kindern durch unsere Veränderun­gen mehr Freiheiten mehr Chancen zu ermögliche­n.“

Kinder reagieren auf Änderungen 1:1. Das Kind wird gelassener, so wie die Mutter.

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Elke Mayr Margit Dechel vermittelt Eltern, wie sie sich selbst durchschau­en und ihre Verhaltens­weisen im Umgang mit ihren Kindern ändern können.
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