»Ich habe auf spießige Eltern und Lehrer nie Rücksicht genommen«
Christine Nöstlinger wird demnächst 80 Jahre alt. Der »Presse am Sonntag« erzählte sie, wie sie sich ihr inneres Kind bewahrt hat, warum Kinderbuchhelden nicht zu schlimm sein dürfen und warum sie die Hoffnung aufgegeben hat, den »langen Winter« des Natio
Sie haben einst zu schreiben begonnen, um dem Hausfrauendasein zu entkommen. Wären Sie in der heutigen Zeit eine junge Mutter, würden Sie dann überhaupt schreiben? Christine Nöstlinger: Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich es heute wesentlich schwerer hätte als damals. Wieso das? Weil ich in Zeiten zu schreiben begann, als es viel Aufsehen um fortschrittliche Kinderliteratur gab. Ich hab von der Leber weg frei geschrieben, ich habe getan, was ich wollte, ohne auf Pädagogen oder Lehrer oder spießige Eltern Rücksicht zu nehmen. Da haben sich dann furchtbar viele Menschen aufgeregt und waren empört, aber ebenso viele waren fasziniert und begeistert. Das war im Gespräch. Aber heute schert sich doch niemand um Kinderbücher. Man überlegt ja gar nicht mehr wie damals: Was sollen Kinder lesen? Ein Kinderbuch ist heute ein gutes Kinderbuch, wenn es gut verkauft wird. Aus, Schluss, basta. Gut verkauft wird doch, was Kinder gern lesen. Ist das nicht in Ihrem Sinn? Nicht alles, was man gern liest, ist in meinem Sinn. Ich finde den Standpunkt schlecht: Hauptsache, die Kinder lesen überhaupt. Es kommt schon darauf an, was man liest. So politisch ist die Kinderbuchszene jedenfalls nicht mehr. Es erscheinen heutzutage auch ganz selten Kinderbuchkritiken in den Medien. Zu der Zeit, in der ich zu schreiben begann, gab es überhaupt keine Kritik an Kinderbüchern, sondern Gutachten. Es gab schon damals einen Kinderbuchpreis des Staates, und da wurden Gutachten verfasst, hauptsächlich von Bibliothekaren und Lehrern. So wurden die Bücher beurteilt, die preiswürdig waren. Ich habe einmal ein kleines Buch geschrieben, „Die Kinder aus dem Kinderkeller“, da kommt ein Papa vor, der ist Fleischhauer und trinkt zu jedem Gabelfrühstück ein Seidl Bier und isst ein paar Würschtel. Im Gutachten stand nix anderes als:
13. Oktober 1936.
Christine Nöstlinger kam in Wien zur Welt und wuchs im Bezirk Hernals auf.
1954
schrieb sie sich an der Akademie für angewandte Kunst ein. Sie studierte Gebrauchsgrafik, heiratete zweimal und bekam zwei Töchter.
1970
erschien ihr erstes Kinderbuch, „Die feuerrote Friederike“, das auf Anhieb ein Erfolg wurde. Seitdem hat sie über 100 Bücher geschrieben.
1980
begann Nöstlinger, Glossen und Kommentare für verschiedene (Boulevard-) Zeitungen zu schreiben.
1984
erhielt sie die Hans-ChristianAndersen-Medaille. 2003 wurde sie gemeinsam mit Maurice Sendak mit dem Astrid-LindgrenGedächtnispreis ausgezeichnet. Christine Nöstlinger lebt heute in Wien. Dieses Buch ist abzulehnen, weil – und dann waren alle Seiten angeführt, auf denen der Fleischhauer ein Bier trinkt – Bier getrunken wird. Das beste Gutachten, das ich je gelesen habe, kam vom Direktor der großen Bibliothek der Gemeinde Wien. Der hat über ein Osterhasen-Bilderbuch geschrieben: „Ich glaube nicht, dass Osterhasen wirklich so miteinander reden.“ Die Kinder in Ihren Büchern sind mutig, sie haben viel Zivilcourage und einen großen Sinn für Gerechtigkeit. Aber es gibt auch Zehnjährige, die rauchen und lügen und Unterschriften fälschen. Hat man Ihnen oft gesagt, Sie sollen bessere Vorbilder schaffen? Sicher hat man mir das gesagt. Aber ich schreibe ja nicht, um Vorbilder zu schaffen. Literatur ist für mich, ein Stück Welt in Sprache umzusetzen. Manchmal hab ich mir schon gedacht, dass meine Bücher den Erwachsenen besser gefallen als den Kindern. Zum Beispiel „Der Spatz in der Hand“, da ging ich von einer falschen Voraussetzung aus: In Kinderbüchern sind die Kinder zwar frech und tun Sachen, die verboten sind, aber im Grunde sind sie edle Menschen. Ich meinte, es frustriere Kinder, dauernd von so edlen Geschöpfen zu lesen. Ich habe an mich als Kind gedacht und ein Kind beschrieben, das ganz nett ist, aber schon ein bissl sehr opportunistisch. Nein, das haben die Kinder nicht mögen! Ich habe in einer Schulklasse gefragt: Seid ihr nicht auch ein bissl so? Oh ja, haben sie gesagt – aber lesen wollen sie das nicht. Und dann haben sie mir den Ratschlag gegeben, ich soll ein edles Mädchen zur Hauptfigur machen, und die könnte dann eine Freundin haben, die so opportunistisch ist. Haben Sie sich Ihr inneres Kind bewahrt? Zu einem guten Teil. Wenn ich eine Dreijährige weinen sehe und höre, dann kann ich heute noch, anscheinend viel besser als andere Menschen, auseinanderhalten, ob das Kind aus Wut oder aus Verzweiflung weint. Die Emotionen, die Kinder haben, die stecken noch in mir. Auch die Ablehnun- gen stecken in mir. Es gibt eine gewisse Hermine, die mit mir in die Volksschule ging. Die hat mir nie etwas getan, aber ich mochte sie überhaupt nicht. Die hat so ein dickes weißes Speckgnack gehabt und so komische kleine Würschtelfinger, und sie war mir zuwider. Wenn ich heute noch bei einer Lesung ein Kind sehe, das dieser Hermine ähnelt, dann muss ich mich beherrschen. Wenn die Kinder nach der Lesung Fragen stellen und so eine zeigt auf, dann neige ich dazu, sie zu übersehen. Dann muss ich mich zur Räson rufen und zu mir sagen: Spinnst? Das Kind kann ja überhaupt nichts für deine Abneigung! Oder, was ich schon als Kind gemacht habe: Bei einem gefliesten Hausflur nur auf jede zweite Fliese steigen, und ja nicht auf die Zwischenräume! Das mache ich noch immer, mit großem Vergnügen! Sie waren ein aufmüpfiges Kind. Es wurde mir ja auch leicht gemacht. Ich war weit und breit das einzige Kind, das nie geschlagen wurde, das auch nie Strafen bekam. Meine Mutter hat manchmal mit Liebesentzug gearbeitet: „Redest mich heute aber nicht mehr an!“Das war aber auch nicht ernst zu nehmen. Glauben Sie, ist die heutige Jugend angepasster geworden? In Bausch und Bogen kann ich das nicht beurteilen. Es war ja nur so eine kurze Zeit, in der junge Leute wirklich aufbegehrt haben. Es ist für junge Leute heute auch viel schwerer. Um aufzubegehren, muss man sich sicher im Leben fühlen. Um 1970 herum waren sich eigentlich jeder noch so aufbegehrende Student und jede Studentin sehr im Klaren, dass sie, wenn sie mit dem Aufbegehren aufhören, einen Job kriegen werden. Das ist heute ganz anders. Wir sehen heute ein Aufbegehren von rechts, die sogenannten Wutbürger. Oder „besorgte Bürger“, wie sie sich gern nennen. Ich bin besorgt, wenn ich mir die anschaue! In den letzten Jahren bin ich nur noch traurig und fassungslos. Weil ich das nie für möglich gehalten hätte, dass so viele Menschen in Europa wieder zum Nationalismus hinwollen, zur Kleinstaaterei, und überhaupt nicht kapieren, wie die Situation ökonomisch ist. Wütend kann ich nicht mehr werden, ich bin kein wütender Mensch. Die Grundstimmung ist ratlos, traurig. Beschäftigt Sie das sehr? Ja, es beschäftigt mich. Sicher wird sich die Zeit wieder verändern. Aber ich werde jetzt 80, in diesen paar Jahren, die ich noch lebe, verändert sich das nicht. Da kann ich nur sehen, wie das schlimmer und schlimmer wird. Und so hab ich mir das eigentlich nie vorgestellt. Ich war immer ein optimistischer