Eine Wahl des »kleineren Übels«
Auf einer Fahrt durch den Südwesten der USA über die Route 66 spürt man, wie sehr diese Präsidentschaftswahl den Amerikanern auf den Magen schlägt. Ein Roadtrip.
Über dem Geisterdorf Bodie rührt sich kein Lüftchen. Dana, eine kleine, pummelige Person, steht im Häuschen zum Eingang in dieses Freiluftmuseum des amerikanischen Traums. Der Goldrush begann hier in den Fünfzigern des 19. Jahrhunderts und endete 20 Jahre später. Dana kassiert den Eintritt. „Ich finde, sie sind beide nichts wert“, sagt sie über die Präsidentschaftskandidaten Hillary Clinton und Donald Trump. Aber sie wird zur Wahl gehen und ihr Kreuzchen für „Hillary“machen. „Sie ist das kleinere Übel.“
Ich fahre mit meinem Cousin Jerry, einem in Philadelphia lebenden Amerikaner, zwei Wochen durch den Südwesten der USA. Jerry ist selbst neugierig, was seine Landsleute „auf dem Land“über die Wahl denken. Lehnen sie die Regierung so sehr ab, dass sie den Wahlkampf nicht beachten? Was macht den Unterschied zwischen den Kandidaten aus, folgen sie den von den Medien transportierten Argumenten, oder geht der Medienhype an ihnen vorbei?
Rasch ist klar: Jeder Amerikaner hat eine Meinung zu den Kandidaten. Vom Kassier an der Tankstelle über den Angestellten im Guitar Center von San Francisco bis zum Mitarbeiter eines Transportunternehmens, den wir in einem mexikanischen Schnellimbiss in der Kleinstadt Kingman an der historischen Route 66 treffen.
Wir kommen von San Francisco (dort sind alle Angesprochenen für Hillary Clinton) über den Yosemite National Park nach Bodie, vorbei am Mono Lake, der eine ähnliche Wasserqualität wie das Tote Meer hat. Vor unserem Besuch im Yosemite-Park frühstücken wir in der mitten im Wald gelegenen Evergreen Lodge. Dort warnen sie vor Bären und Pumas, die auch Berglöwen heißen und bis zu 100 Kilogramm schwer werden. Wenn sich so ein Raubtier nähert, soll man sich möglichst groß machen und laut lärmen, dann trollen sie sich wieder. Hoffentlich.
Kathleen ist eine Park-Rangerin, an die 50, die glatten, weißblonden Haare fallen ihr vom Hut bis auf die Schultern, und sie hasst Hillary Clinton. „Sie ist eine Lügnerin“, sagt die Angestellte des National Park Service. „Und sie verursacht den Tod von Menschen.“ Lügengeschichten. Kathleen spielt offenbar auf den Angriff auf das US-Konsulat in der libyschen Stadt Bengasi 2012 an, der US-Botschafter J. Christopher Stevens und drei weiteren Amerikanern das Leben gekostet hat. Donald Trump behauptete im Wahlkampf, das Fehlverhalten der damaligen Außenministerin, Clinton, habe den Tod der US-Bürger zur Folge gehabt. Trump konnte dafür bisher keine Beweise vorlegen. Die Vorwürfe werden aber auch mit Clintons E-Mail-Affäre verknüpft. Als Außenministerin unter Präsident Barack Obama hatte sie auch einen privaten – und nicht den offiziellen, sicheren – Server für ihre E-Mails verwendet.
Viele Amerikaner, wie Kathleen und auch das Ehepaar Gene und Walter, das ich in einem Taco Deli in Kingman treffe, halten Clinton deswegen für eine Lügnerin. „Ich habe Angst“, sagt Gene, „dass sie die Abtreibung bis zur Geburt freigibt, wir werden unser Recht verlieren, Waffen zu tragen, und sie zerstört für die Banken die Wirtschaft.“Ihr Ehemann, Walter, ein Schrank von einem Mann in einem weiß-blau karierten Hemd, nickt. „Trump ist auch nicht perfekt, aber er ist der Beste.“ Ein Verbrechen. Das Death Valley ist ein typisch amerikanischer Fall: ein großer Name für eine kleine Aufregung. Keine 200 Kilometer, und man ist durch. Vorher legen wir in Bishop eine Pause ein, kaufen im Schat’s, einer sensationellen Bäckerei, Mandeltörtchen, Croissants und Schokolade für die Reise. Frühstück gibt es in einem Buchgeschäft mit angeschlossenem Kaffeehaus. Janet, Juliet und Francis, drei energische ältere Damen, halten Trump für ein Verbrechen an den USA. „Hier sind die meisten für Hillary“, sagt Janet, „aber viele sagen es nicht offen.“Und Juliet erläutert: „Du darfst in so einem kleinen Ort niemanden vor den Kopf stoßen, weil du nicht weißt, wann und zu welcher Gelegenheit du ihn wieder siehst.“Ein Jammer, wie niedrig das Niveau der Kandidaten sei, seufzt Francis.
Auf dem Flughafen von Kingman im Bundesstaat Arizona ein paar Hun- dert Meilen weiter sieht man durch das Fenster des Restaurants Tausende abgewrackte Flugzeuge. Die Luft ist hier so trocken, dass sie nicht rosten. Das Flughafenrestaurant ist eine Oase des alten Amerika, drei routinierte Ladys kochen Kaffee, Eier und braten Speck, die Gespräche rundherum drehen sich um „Trump und Hillary“.
Jeder Amerikaner, landauf, landab, hat eine Meinung zu den Kandidaten. Viele Amerikaner halten Clinton wegen der Affäre um ihre E-Mails für eine Lügnerin.
So geht es landauf, landab. Auf dem Hoover Dam und in den alten Tankstellen auf der Route 66, in den Trading Posts im Reservat der Navajo und Hopi und den altmodischen Hotels am Rand des Grand Canyon, in den Memorabilien-Shops in Winslow, das eine Zeile in einem Lied der Eagles als Legitimation für seinen Platz im Geschichtsbuch der Nation nutzte („Take it Easy“: „Well, I’m a-standin’ on a Corner in Winslow, Arizona“) – überall singen sie das gleiche, patriotische Lied: Dieses Land ist zu schade für die Wahl zwischen Hillary Clinton und Donald Trump. Aber weil es halt nicht anders geht und weil es sein muss, machen sie mit. Verärgert, verängstigt, verstört, aber sie lassen die Hoffnung noch nicht fallen. Noch nicht. Das Ehepaar aus der Nähe Chicagos nicht, das sich in Winslow ein Ferienhaus gekauft hat und Trump für einen Idioten hält. Der Anhänger des linken Demokraten Bernie Sanders in der Bright Angel Lodge nicht, der widerwillig die „Stütze des alten, korrupten Systems“wählen wird.
Und auch Evelina nicht, die mit ihren „mehr als achtzig Jahren“schon 33 Mal am Grand Canyon war. „Ich bin mit meinem Mann in den 1950er-Jahren aus Frankfurt ausgewandert“, sagt sie. „Seine Schwester hat uns die Fahrt gezahlt. Wir wollten Erfahrung sammeln und sind hier geblieben.“Nun liegt ein Leben als Forscherin in Biochemie an einer Universität in Salt Lake City hinter ihr, ihr Ehemann, ein Nuklearphysiker, ist seit einigen Jahren tot. Nein, zurück nach Europa würde sie nicht gehen, sagt Evelina und lächelt. „Dort ist es mir zu eng.“Ja, sie werde wählen, sagt sie. Wen? „Das weiß ich noch nicht“, sagt sie und lächelt.