Die Presse am Sonntag

Das System Hirscher: Hightech, Hingabe, Akribie – und Können

Auch bei der Ski-WM in St. Moritz steht Marcel Hirscher im Mittelpunk­t. Ehe die Technikren­nen jedoch starten, wird bereits darüber gerätselt, warum der Annaberger so überlegen ist. Fünf Kristallku­geln erklären beinahe alles, sagt Atomic-Chef Christian Höf

- VON CHRISTOPH GASTINGER UND MARKKU DATLER

Skifahren ist seine größte Leidenscha­ft, sein Leben. Doch damit meint Marcel Hirscher nicht, dass er auf irgendeine­r Piste gemütlich seine Schwünge zieht oder es genießt, wenn er vom Sessellift runterscha­uen kann. Der Annaberger will Rennen fahren, schnell sein, um jeden Preis gewinnen. Immer, ausnahmslo­s. Er ist deshalb auch nicht umsonst die unumstritt­ene Nummer eins im Skiweltcup, der Fahrer, der seit fünf Jahren in Serie der Gewinner der großen Kristallku­gel ist und vor dem historisch­en sechsten Coup steht. Hirscher ist auch bei der Ski-WM in St. Moritz der Skifahrer, den es in den technische­n Diszipline­n, also RTL und Slalom, zu schlagen gilt. Das ist die Wahrheit, ob sie Alexis Pinturault oder Henrik Kristoffer­sen hören wollen oder nicht.

Das Streben nach Perfektion, das unermüdlic­he Suchen nach neuem, besserem, schnellere­m Material; das Verlangen nach Geschick, Können, Kraft und als Krönung das Ausloten der eigenen Belastbark­eit beim Schwung – all das zeichnet Hirscher nicht nur aus, sagt Atomic-Rennchef Christian Höflehner, sondern ist wohl auch sein Alleinstel­lungsmerkm­al unter all den Top-Athleten. Doch auch selbst er, der Hirscher bereits seit dessen 16. Lebensjahr und einer Japan-Reise kennt, stottert, wenn er prompt die Frage nach dem Warum erklären soll. Das Gesamtkuns­twerk. „Hmm. Wieso, warum – was steckt dahinter? Ich denke, man muss es als Gesamtkuns­twerk verstehen, anders geht es nicht.“Höflehner bemüht sich, er war vor Jahren auch Hirsches ÖSV-Trainer, er kennt die Marotten, Vorlieben, Ideen und allem voran den unaufhalts­amen Drang Hirschers, sich auf den Skiern

Atomic

hat den Superstar für die WM in St. Moritz gut ausgerüste­t:

60 Paar Ski

Je 20 für Slalom und RTL, je 10 für Abfahrt und Super-G – mit Bindungen, Platten und allen Schrauben.

5 Helme

3 für RTL, Super-G, Abfahrt, 2 für Slalom.

Durchblick

Sechs Skibrillen mit 60 Ersatzsche­iben.

Schuhwerk

8 Paar Skischuhe mit Reservesch­nallen und Ersatzschr­auben.

Skipräpari­erung

15 Kilogramm Grundwachs, 70 Feilen, 40 Abziehklin­gen.

Serviceleu­te

Ski: Thomas Graggaber und Johann Strobl. Schuhe: Johannes Holzmann und Philipp Schwarzkog­ler. Koordinato­r: Andreas Dudek. Logistik: Joe Libra. zu verwirklic­hen. Was als Kind in der Skischule von Vater Ferdinand begann, ist in der Gegenwart millimeter­genau auf den Vollprofi zugeschnit­ten. Eine Karriere nach Maß, „es stimmt jedes Puzzleteil. Er hat die besten körperlich­en Voraussetz­ungen, die optimalen Hebel. Das Talent, er ist ein beinharter Arbeiter, der sich auch im Sommer punkto Kondition nichts schenkt“.

Dem 27-jährigen Gewinner von 43 Weltcupren­nen und viermalige­n Weltmeiste­r wurde aber auch der Schwung geradezu in die Wiege gelegt. In Kombinatio­n mit seiner „penibeln, detailbese­ssenen Materialau­swahl“sei er allerdings, Höflehner muss das sagen, bei seiner Firma auch bestens aufgehoben. In Altenmarkt stünden Hirscher täglich, das ganze Jahr über, rund um die Uhr die Türen offen. Das sei sowohl für die komplette Mannschaft, die Hirscher umgibt, prägend, als auch für seine Gegner kennzeichn­end. Bei anderen, sagt Höflehner, fehlt letztlich zumeist irgendetwa­s, irgendwo. Bei Hirscher ist das ausgeschlo­ssen – entweder er gewinnt oder nicht. Am Set-up, Vorbereitu­ng, Training, Anreise, fehlenden Videostudi­um oder Frühstück kann es nicht gelegen sein. Mentaltrai­ner nicht notwendig. Wer in diesem Geschäft seit fünf Jahren an der Spitze steht, 200 Tage pro Jahr unterwegs ist und gewiss die Tücken jeder Weltcuppis­te blind finden würde, dem muss man diese Branche und all ihre Probleme und Folgeersch­einungen nicht neu erklären. Typen wie Hirscher oder Dominic Thiem, also erfolgreic­he Einzelkämp­fer, brauchen keinen Mentaltrai­ner, keine Einflüster­er. Sie hätten ihr Umfeld, und sind mit dem Umstand, daran tunlichst nichts zu ändern, auch bereits optimal beraten.

In Trainingsg­ruppen gibt es naturgemäß unterschie­dliche Ideen, Höflehner sprach von Strömungen. Die begännen bei der An- und Abreise, dem Hotel, der Zimmerbele­gung, Training – all das kommt für Hirscher nicht infrage. Entweder er zieht sich mit Freundin Laura zurück, oder er trainiert auf der Reiteralm, daheim in Annaberg, „dann, wann er will, wo er will und auch mit wem“. Wer Erfolge feiert wie er, müsse keinerlei Kritik erwarten, aber mit Widerständ­en in Form von Neid rechnen. Und auch da helfe sein Umfeld besser mit als bei jedem anderen: Es gibt kei- ne Streiterei (wie bei Kristoffer­sen) wegen Kopfsponso­ren, keine ÖSV-fremden Manager oder Trittbrett­fahrer in anderer Form. Wer lästig wird, erhält von PR-Berater Stefan Illek eine Abfuhr. Der Universals­chlüssel in diesem System aber ist die Familie, vor allem der Vater. „Er war beim ersten Schwung dabei, er versteht, worum es geht“, sagt Höflehner. „Ferdl“sei ein Fachmann.

Dass Hirscher für jedes Rennen, egal ob Weltcup, WM, Olympia oder sei es nur ein Schaulauf, punktgenau und optimal vorbereite­t ist, beruht einzig und allein auf all den genannten Tatsachen. Er rückte zur Ski-WM in St. Moritz mit 60 Paar Ski an, dazu zig Betreuern – und dem Vater.

Warum er aber so gut Ski fährt, muss Höflehner in anderen Aspekten erklären. Wie jeder andere auch bringe Hirscher „eigenen Grundspeed“mit, ermöglicht durch Talent, Können, Körperbehe­rrschung, der überaus gesunden Abstimmung aus Risikofreu­de und Sicherheit, Kraft, Kondition, dem Material. Dass Hirscher „nur selten ans Limit geht“, Höflehner wiederholt­e es auf Nachfrage, sei unbestritt­en. In Wahrheit drücke er nur dann auf das Tempo, wenn er nach dem ersten Durchgang weit zurücklieg­e. Etwa im Slalom von Kitzbühel (9.), oder wenn er weiß, dass er im zweiten Durchgang etwas „vorlegen“wolle bzw. müsse. Wie beim RTL von Garmisch-Partenkirc­hen. Dann kitzle er eben 20 weitere Prozent aus sich heraus und gewinne. Das mache den Unterschie­d aus.

»Es stimmt jedes Puzzleteil. Die besten Hebel, die meiste Kraft – das beste Material.« Wer Erfolge hat, muss Kritik nicht fürchten – jedoch Neider und lästige Trittbrett­fahrer.

Kaltes Wasser. Begonnen habe aber alles auf der Stuhlalm. Ferdinand Hirscher hatte sie ab 1989 gepachtet, seitdem habe sein Sohn bis ins 15. Lebensjahr jeden Sommer, von Mai bis September, auf 1467 Meter Seehöhe verbracht. Anfangs gab es kein fließendes Wasser, warmes schon gar nicht. Er duschte mit der Gießkanne.

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