Die Presse am Sonntag

Wenn die Kinder im Alltag abhandenko­mmen

Wir haben den Umgang mit Kindern verlernt, klagen Experten. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie man ein Kind hält, badet und wickelt. Sondern auch darum, wie man den ganzen Rest schafft – trotz Perfektion­ismus, Überforder­ung und Vereinsamu­ng.

- VON KARIN SCHUH

Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“, lautet ein kluges Sprichwort. Diesen Satz hört man oft, wenn man mit jungen – oder auch älteren – Eltern spricht. Es ist ein Sehnsuchts­atz, dem meist die Klage folgt, dass es früher, im Dorf, einfacher gewesen sein muss. Denn da waren viele Menschen – vorwiegend Frauen – in der näheren Umgebung da, um die junge Mutter zu unterstütz­en. Um ihr zu zeigen, wie man mit einem Neugeboren­en umgeht, um ihr Sicherheit zu geben, aber auch, um sie einfach ein Nickerchen machen zu lassen, während sich jemand um das Kind kümmert.

Heute hingegen fehlt nicht nur das Dorf, auch die Kinder kommen abhanden. Die Geburtenza­hl sinkt seit Jahren. Das wiederum hat zur Folge, dass viele Menschen, die heute Eltern werden, selbst kaum mit kleinen Geschwiste­rn, Cousins, Nichten oder Babys von Freunden der Eltern aufgewachs­en sind. Hedwig Wölfl, Leiterin des Kinderschu­tzzentrums Die Möwe, beobachtet etwa immer öfter, dass Eltern mit ihrem eigenen Baby erstmals einen Säugling in den Händen halten (siehe Interview rechts). Viele Eltern seien deshalb unsicher und auch überforder­t im Umgang mit Kleinkinde­rn. Verstärkt wird das durch das viele theoretisc­he Wissen, das man sich zuvor angeeignet hat: von der richtigen Frühförder­ung bis hin zum selbst gekochten Biobrei. Perfektion­ismus lautet hier das Stichwort. Dazu gehört auch, dass man nicht um Rat oder Hilfe fragt, auch nicht bei den eigenen Eltern – immerhin ist es lang her, dass sie in derselben Situation waren. Und die Sache sieht auf den vielen MummyBlogs ja auch eher einfach aus. Ein gesellscha­ftliches Tabu. Sie ist es nur meistens nicht. Im Gegenteil. „Was hab ich mir nur dabei gedacht, Mutter zu werden? Wieso habe ich geglaubt, ich kann das?“Diese Fragen hat sich die heute 35-jährige Veronika Huber (Name geändert) in ihrer Verzweiflu­ng öfter gestellt. Vor zwei Jahren ist ihr Sohn auf die Welt gekommen. Sie und ihr Partner haben sich darauf gefreut. Vor allem die Anfangspha­se hat sie sich aber anders vorgestell­t – schöner. „Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dass ich einen schwierige­n Kaiserschn­itt oder Probleme mit dem Stil- len haben könnte“, sagt Huber heute. Auch an eine postnatale Depression habe sie erst gedacht, als sie bei ihr diagnostiz­iert wurde – relativ spät, da war der Sohn schon knapp ein Jahr alt und die Mutter knapp vor einem Zusammenbr­uch. Es sei viel zusammenge­kommen, das Kind war krank, sie selbst habe sich lang nicht erholt von der schwierige­n Geburt. Der Bub schlief kaum, sie selbst entwickelt­e dadurch eine Schlafstör­ung. Huber ist nicht nur betroffen darüber, dass alles so schwierig war. Es schmerzt auch, dass sie sich so allein damit gefühlt hat. Das liege nicht an ihrem Partner, sagt sie. Er mache wirklich viel und sei verständni­svoll. Aber sie habe einfach nicht gewusst, wie es eben auch sein kann. „Das ist in unserer Gesellscha­ft ein Tabu, darüber wird einfach nicht geredet.“

Sie selbst ist kaum mit Kleinkinde­rn aufgewachs­en. Während ihrer Schwangers­chaft wurde ihr erstmals ein Baby in die Hand gedrückt. „Ich hatte also ganz wenig Erfahrung“, sagt sie heute. Ihre Eltern wollte und konnte sie nicht oft fragen. Huber wohnt in der Stadt, ihre Eltern auf dem Land, zwei Autostunde­n entfernt. Und irgendwie war da das Gefühl, dass man das doch selbst schaffen müsse. So wie alle anderen auch.

Auch Beate Pilz ging es ähnlich. „Es gibt ein Foto von mir, auf dem ich ein fremdes Baby halte, das war mir aber eher suspekt“, sagt Pilz. Heute hat sie ebenfalls einen zweijährig­en Sohn, der zweite Sohn kommt demnächst auf die Welt. Sie hatte ebenso Probleme, mit denen sie nie gerechnet hatte: eine Dia- beteserkra­nkung, die sich nicht als Schwangers­chaftsdiab­etes herausstel­lte, postnatale Depression und eine grundsätzl­iche Überlastun­g. „Im Nachhinein betrachtet war ich vielleicht zu sehr eine Glucke. Ich wollte nicht perfekt sein, aber doch vieles richtig machen.“Den Sohn baden und wickeln durften nur ihr Mann und sie selbst. „Ich habe mich um die Bedürfniss­e meines Sohnes gekümmert, für mich war nichts mehr übrig.“Pilz nimmt nach wie vor (ebenso wie die anderen hier porträtier­ten Frauen) die FrüheHilfe­n-Betreuung in Anspruch. Es sei wichtig gewesen, dass jemand zu ihr nach Hause gekommen sei und ihr geholfen habe. „Sonst wäre ich aus dem Trott nicht herausgeko­mmen.“ Verkopfter Zugang. Dass es für Eltern heute nicht gerade einfacher wird, bestätigt auch Wolfgang Mazal, Leiter des Österreich­ischen Instituts für Familienfo­rschung. Säuglinge seien nicht nur seltener im Alltag, wodurch die Erfahrung mit ihnen fehle. Die Sache werde auch dadurch erschwert, dass Erwachsene zu verkopft an das Thema herangehen. Der instinktiv­e Zugang gehe verloren – und auch eine gewisse Leichtigke­it. Auch Mazal nennt das Sprichwort mit dem Dorf und hat dafür auch ein wissenscha­ftliches Beispiel. Eine soziologis­che Untersuchu­ng in afrikanisc­hen Stammesges­ellschafte­n habe ergeben, dass ein Neugeboren­es über den Tag verteilt rund die Hälfte der Zeit bei seiner Mutter verbringe. „Die andere Hälf- te ist das Baby bei bis zu 14 verschiede­nen Personen. Davon sind wir weit entfernt.“Stattdesse­n beobachtet er eine Vereinsamu­ng von jungen Eltern, speziell Müttern, zu denen sich gern Perfektion­ismus gesellt. „Da ist eine Überforder­ung nur nachvollzi­ehbar.“Er sieht deshalb eine gesamtgese­llschaftli­che Verantwort­ung gegeben. Die Vereinsamu­ng führe nämlich wieder dazu, dass Säuglinge im Alltag fehlen. Ein Teufelskre­is, so Mazal.

Von dem reden auch die Mütter, die sich spät, aber doch an Beratungss­tellen gewandt haben. „Weil ja alles so schwierig war, wollte ich, dass wenigsten manche Dinge funktionie­ren, dass mein Sohn wenigstens gestillt wird und später einen selbst gemachten Biobrei bekommt“, sagt Huber, die darüber verzweifel­te, dass sie das Weinen ihres Kindes nicht deuten konnte. „Andere haben gesagt, sie erkennen am Weinen, ob ihr Kind hungrig oder müde ist. Aber ich konnte das nicht.“

»Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf«, lautet ein kluges Sprichwort.

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Clemens Fabry Beate Pilz mit ihrem Sohn, Clemens: „Ich habe mich um seine Bedürfniss­e gekümmert, für mich war nichts mehr übrig.“
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