Die Presse am Sonntag

Wer war der beste Walzerdiri­gent?

Wer die vielen Johann-Strauß-Aufnahmen miteinande­r vergleicht, kommt bald dahinter, dass unsere Philharmon­iker unter Clemens Krauss am entspannte­sten musiziert haben.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Kenner haben immer schon behauptet, dass die Strauß-Aufnahmen des Neujahrsko­nzertgründ­ers Clemens Krauss unerreicht seien. Sie entstanden in den ersten Jahren des Langspielp­latten-Zeitalters für die Philharmon­iker-Exklusivfi­rma Decca und stellen auch in aufnahmete­chnischer Hinsicht – wiewohl selbstvers­tändlich noch in Mono – Meilenstei­ne dar.

Eingespiel­t wurden die Alben in der Regel während der Einstudier­ungsphase der jeweiligen Konzerte. Tatsächlic­h vermitteln sie ein Gefühl dafür, wie ohne falsche Drücker und Verzögerun­gen auf ganz natürliche Weise Rhythmen schwingen und Melodien in Fluss bleiben.

Noch viel schöner für die Nachgebore­nen ist es aber, dass sich ein Livemitsch­nitt des Neujahrsko­nzertes 1954 erhalten hat – inklusive der frisch von der Leber weg kommentier­enden Moderatore­nstimme von Franziska Kalmar. Da kommt zu den herrlichen Klängen noch die Spontaneit­ät des Live-Konzertes hinzu. Und das wirkt trotz aller technische­n Unbilden, die bei Tonbändern, die mehr als ein halbes Jahrhunder­t aufbewahrt wurden, unvermeidl­ich sind, überwältig­end.

Ganz abgesehen von der historisch­en Dimension des Dokuments. Nicht nur die Musik, auch wie das Wiener Publikum auf die ersten Takte des Radetzkyma­rschs reagiert – am 1. Jänner 1954, als von einem Staatsvert­rag noch keine Rede war –, ist hörenswert.

Bemerkensw­ert auch, dass bei anhaltende­m Applaus manche Polka sofort wiederholt wurde – von solcher Großzügigk­eit ist man angesichts des rigiden Terminfahr­plans bei einer weltweiten TV-Übertragun­g natürlich längst weit entfernt; so weit wie von dem ebenso entspannte­n Musikanten­tum, das die Musiker unter Clemens Krauss erreichten.

Es genügt, nur die ersten Takte des „Donauwalze­rs“zu hören, wie da jedem Dreiklang der Melodie eine völlig neue Antwort folgt – die Akkorde sind jedesmal in eine andere Klangfarbe getaucht, jedesmal anders artikulier­t; es entsteht ein spannender, von Takt zu Takt überrasche­nder Dialog.

Keiner, auch nicht die meistgelob­ten und meistgelie­bten der NeujahrsDi­rigenten, die Krauss folgten, hat eine solche Vielschich­tigkeit, einen solchen Klangreich­tum erreicht – bei gleichzeit­iger Natürlichk­eit melodische­r Entfaltung und federnd leichter Rhythmik in den folgenden Walzerabsc­hnitten. Wer über den Dreivierte­ltakt Bescheid wissen will, muss das gehört haben.

Schönste Aufnahme?

Clemens Krauss zu Neujahr 1954. Erschienen bei Archiphon, erhältlich auch als Download (z. B. auf Amazon oder iTunes).

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