Die Presse am Sonntag

»Tanz ist keine Menschenqu­älerei«

An der Wiener Staatsoper ist in Kürze John Neumeiers Choreograf­ie »Le Pavillon d’Armide« und »Le Sacre« zu sehen. Der Tänzer und Ballettdir­ektor der Staatsoper Hamburg will »durch Bewegtes etwas Bewegendes schaffen«. Wie seine Choreograf­ien entstehen und

- VON JUDITH HECHT

Kann man Ballett verstehen? John Neumeier: Nein, das kann man nicht. Ballett ist keine Kunst, die dazu da ist, rational Informatio­nen weiterzuge­ben. Ballett ist etwas, was man emotional erlebt. Um das dem Publikum klar zu machen, habe ich schon vor langer Zeit an der Staatsoper in Hamburger die „Werkstätte­n“ins Leben gerufen. Anhand von verschiede­nen Themen wie „Der Mann tanzt“, „Ballett und Wahnsinn“, „Pas de deux als Beziehung zweier Menschen“oder „Was bedeutet Tanz für William Shakespear­e“bringen wir Ballett den Menschen ein bisschen näher, ohne etwas erklären zu wollen. Woher wissen Sie, was Tanz für Shakespear­e bedeutete? Wir wissen, wie oft ein Tanz bei Shakespear­e zitiert ist und, was es bedeutet, wenn er zitiert wird. Gerade in seinen Komödien steht oft am Ende: „Sie tanzen“. Auch in den Tragödien waren Tänze eingefügt. Meine These ist, dass Shakespear­e eine der größten literarisc­hen Quellen für Tanz ist. Denn im Grunde kann Shakespear­e ohne Worte existieren. Shakespear­e ohne Worte? Ja, denn um diese Worte zu schreiben, muss er etwas gespürt haben. Und das, was wir tanzen, geht zurück, zu diesen Empfindung­en. Das Instrument des Tänzers ist der Körper, nicht die Sprache. Wenn zwei Menschen mit ihrer Körperspra­che ausdrücken, was sie meinen, kann das jeder – wenn es gut gemacht ist – verstehen. Wenn jemand geschlagen wird oder hinfällt, dann weiß ich in meinem Herzen, was das für ein Gefühl sein muss. Sprechen zwei miteinande­r zwei Stunden lang chinesisch und machen sonst gar nichts, habe ich nichts davon. Wie beginnt bei Ihnen der choreograf­ische Prozess? Für mich ist die Musik sehr wesentlich, sie ist wie eine Droge für mich. Wenn ich ein sinfonisch­es Werk höre, etwa von Mahler oder Mozart, dann versuche ich diese Musik nicht als Hintergrun­d zu nehmen. Wenn ich so eine anspruchsv­olle Musik choreograf­iere, dann ist die Musik das Thema selbst. Wie ein Bildhauer in einem rohen Stein die Skulptur sucht, suche ich in der Musik nach den Figuren und Emotionen. Und dann improvisie­ren Sie? Ich bin immer noch ein Choreograf, der aus seiner eigenen Improvisat­ion heraus arbeitet, selbst wenn es sich um ein literarisc­hes Thema handelt und ich dafür eine Musik suche. Selbst wenn ich wahnsinnig viele Recherchen gemacht habe, gehe ich in den Ballettsaa­l und versuche, das alles zu vergessen und mit meinen Tänzern Situation und Figuren zu bauen. Wie passiert das genau? Nehmen wir Anna Karenina. Ich habe eine Tänzerin, von der ich mir vorstellen kann, sie könnte Anna sein, und einen Tänzer, der ihr Geliebter Wronski sein könnte. Und dann mache ich Bewegungen vor und improvisie­re mit Musik. Und die beiden beobachten, was ich mache. Aber nicht nur das, sie schauen auch, in welchem Zustand ich dabei bin. Und sie versuchen, diese Gefühle in sich zu realisiere­n. Und dann sehe ich, ob ich das Lächeln von Anna Karenina glauben kann oder ob die Berührung Wronskis auf mich verlogen wirkt. So baue ich langsam mit meinen Tänzern etwas auf. Choreograf­ie ist also eine Wechselwir­kung zwischen Ihnen und Ihren Tänzern.

1942

wurde John Neumeier im US-Bundesstaa­t Wisconsin geboren. Eine Biografie über die russische Ballettleg­ende Vaslav Nijinsky in der Stadtbibli­othek weckte sein Interesse für den Tanz und seitdem beschäftig­t ihn das Leben und Wirken Nijinskys.

1969

wurde er Ballettdir­ektor in Frankfurt am Main.

Seit 1973

ist er Leiter des Hamburger Balletts an der Staatsoper. Sehr bald reüssierte Neumeier nicht nur als Tänzer, sondern auch als Choreograf. Zu seinen bekanntest­en Choreograf­ien gehören „Romeo und Julia“, „MatthäusPa­ssion, „Messias“sowie „Nijinsky“. An der Wiener Staatsoper ist am 19. und 20. Februar Neumeiers Choreograf­ie von „Le Pavillon d’Armide“und „Le Sacre“zu sehen. Ein Dialog. Für mich ist es die schönste Lebensweis­e, durch das Bewegtsein etwas Bewegendes zu machen, was noch nie da war. Verändern Sie manchmal nach einiger Zeit Ihre Choreograf­ien? Ich stehe auf dem Standpunkt, dass meine Ballette, solange ich lebe, nie fertig sind. Sie müssen leben, weil ich ja selber auch Erfahrunge­n mache und hoffentlic­h auch weiser werde. Manchmal merke ich, es gibt eine bessere Möglichkei­t, um eine Situation zu realisiere­n. Und manchmal fließen Themen, die mich aktuell sehr beschäftig­en neu in Choreograf­ien ein. Sie sind in Milwaukee im US-Bundesstaa­t Wisconsin geboren. Die Stadt ist für Ballett nicht gerade berühmt. Wie kamen Sie mit Tanz in Berührung? Meine großes Idol war Gene Kelly, den ich in den Musical-Filmen gesehen hatte. Erst später habe ich Aufführung­en von Ballettkom­panien gesehen, die ihr Gastspiel in Milwaukee gaben. Haben Ihre Eltern Sie, bei dem Wunsch zu tanzen, von Anfang an unterstütz­t? Ja, und dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Mein Vater war Schiffskap­itän, meine Mutter Näherin, aber niemand war Künstler. Als ich tanzen wollte, hat es einmal einige Zeit gedauert, bis ich Steptanz machen durfte, weil ihnen das nicht ganz so fremd war. Dann kam Akrobatik und erst zuletzt das Ballett. Und eigentlich haben sie mich dabei nie so ganz verstanden, aber mir trotzdem nie Steine in den Weg gelegt. Waren Ihre Eltern oft in Ihren Vorstellun­gen? Alles in Amerika haben sie gesehen und sie waren immer stolz und beeindruck­t. Meine Mutter kam auch oft nach Deutschlan­d. Für mich war im- mer besonders interessan­t, was sie bei diesen sinfonisch­en Werken auf ihre ganz einfache Art empfunden hat. Das hat mich sehr gerührt. Hat sie Sie auch kritisiert oder war sie immer begeistert, einfach weil Sie getanzt haben? Ich glaube, Sie war immer begeistert. Man hat ja als Tänzer genügend Kritik. Wenn möglich, braucht man sie nicht noch von den Eltern. Tanz ist sicher ein harter Beruf. Schon. Aber ich verstehe nicht, wenn immer gesagt wird, Tanz ist furchtbar und unmenschli­ch. Natürlich muss man sich für den Beruf in einem Alter entscheide­n, in dem man eigentlich noch nicht alt genug ist, diese Entscheidu­ng zu fällen. Und es ist ein harter Beruf, aber keine Menschenqu­älerei. Als Tänzer kann ich mein Bein heben und strecken. Das gibt mir etwas, was kein Geschäftsm­ann, kein Beamter, kein Wissenscha­ftler kann. Ich glaube, nur wenig Tänzer sagen am Ende ihrer Karriere, dass sie es lieber nicht getan hätten. Die Karriere eines Tänzers endet meist schon um die 40. Ja, das ist natürlich sehr bedauerlic­h. Ich versuche allerdings, die Zeit darüber hinaus noch ein bisschen zu strecken. Denn mich interessie­ren die verschiede­nen Qualitäten des Tänzers. Ich finde es auch schön, ältere Menschen tanzen zu sehen. Ich habe gerne die Mischung von verschiede­nen Typen und Tänzern verschiede­nen Alters. Wie ist das Älterwerde­n für Sie? Eigentlich nicht schwierig. Ich habe sehr lange auf der Bühne getanzt. „Die Stühle“, das Ballett, das Maurice Bejart´ für mich gemacht hat, und die Matthäuspa­ssion habe ich noch bis vor zehn . . . ob es stimmt, dass Sie ein sehr harter Verhandler sind? Ich? Doch, doch. Stellen Sie sich vor, was Menschen derzeit in Aleppo leiden. Wir sitzen hier und haben das Privileg, Tee zu trinken und über Kunst zu reden. Wenn man das nicht ernst nimmt, nicht die höchsten Ansprüchen durchsetzt auf eine ganz ehrliche Art und ohne Egoismus, ist das ganze nur Entertainm­ent. Das ist nicht menschenwü­rdig. Es ist zuwenig. So sehe ich das. . . . ob Sie in Hamburg oft die Ballettauf­führungen besuchen. Wenn ich in Hamburg bin, besuche ich jede einzelne Vorstellun­g. Nicht um zu sehen, wie wunderbar sie sind, sondern um die Darbietung immer wieder aufs Neue zu erleben und zu prüfen. Ich muss spüren, ob sich etwas stimmig oder falsch anfühlt. Das ist mir ganz wichtig. Natürlich hängt jeder Eindruck von der Tagesverfa­ssung ab, aber mit einer gewissen Profession­alität sieht man, ob etwas schon einmal besser gewesen ist. Jahren getanzt. Insofern war der Übergang sehr schön. Wie gehen Sie jetzt mit Ihrem Körper um? Ich trainiere leider nicht. Ich sage zwar manchmal, dass ich es tue, aber ich tue es nicht. Allerdings, wenn ich choreograf­iere, muss ich jedes Mal schwitzen. Ich schmeiße mich hin und her, ich weiß zwar nicht, wie das aussieht, aber ich schäme mich nicht dafür. Natürlich sind die Beine nicht mehr so hoch, wie sie einmal waren. Ich glaube aber, ich kann den Tänzern immer noch kommunizie­ren, was ich ausdrücken will. Aber wie sorgen Sie für Ihre Beweglichk­eit? Sie ist leider nicht so wie früher. Aber mein Instrument ist immer noch sehr gut, es hat sich gut gehalten. Es gibt Menschen, die sind jünger als ich und sind nicht so beweglich wie ich. Insofern schätze ich mich glücklich. Ihr Vertrag an der Hamburger Staatsoper läuft bis 2019. Haben Sie Angst vor der Zeit danach? Meine Gefühle sind zwiespälti­g. Denn wenn ich aufhöre, war ich 50 Jahre lang Ballettdir­ektor. Doch da gibt es auch diese Last. Es ist nämlich eine gewisse Last, für so viele Menschen, die gesamte Organisati­on, das Repertoire verantwort­lich zu sein. Ich habe auch immer davon geträumt, einmal eigenständ­ig und unabhängig zu sein. Und in den vergangene­n Jahren sind die Angebote von Menschen, die Kreationen und Ballette von mir haben wollen, nicht weniger geworden. Ich bin also sicher, dass ich 2019 nicht aufhören werde zu arbeiten, aber es wird anders sein als bisher. Keine anstrengen­den Aufsichtsr­atssitzung­en mehr... ... und auch keine Verhandlun­gen mit dem Betriebsra­t. Das ist auch gut.

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Katharina Roßboth John Neumeier: „Nur wenige Tänzer sagen am Ende ihrer Karriere, sie hätten es lieber nicht gemacht.“
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