Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VON MARTIN KUGLER

Dass es echte Naturkatas­trophen auch hierzuland­e geben kann – von Eisregen bis Heuschreck­enplagen –, ruft eine sehenswert­e Ausstellun­g in St. Pölten ins Bewusstsei­n.

Der Tornado mit 300 km/h Windgeschw­indigkeit hinterließ eine ein Kilometer breite Schneise der Verwüstung – 32 Todesopfer und 300 Verletzte waren zu beklagen. Szenenwech­sel: Ein Heuschreck­enschwarm fiel über das Land her, die Insekten ließen „den Tag zur Nacht werden“, hieß es. Und: Nach den heftigen Erdstößen waren die Schäden so groß, dass die Behörden private Spendensam­mlungen organisier­en mussten, um der Folgen Herr zu werden. Solche Meldungen ist man aus anderen Weltgegend­en gewohnt. Die drei fanden allerdings in Niederöste­rreich statt: Der Tornado brauste 1916 über das südliche Industriev­iertel, die Heuschreck­enplage kam 1749, und das schrecklic­he Erdbeben verwüstete 1768 Wr. Neustadt.

Diese Beispiele erinnern uns daran, dass es auch hierzuland­e echte „Naturkatas­trophen“geben kann – wenn auch selten, erläutert Geophysike­rin Christa Hammerl, die für die Zentralans­talt für Meteorolog­ie und Geodynamik (ZAMG) historisch­e Erdbeben erforscht. Ihr reiches Wissen floss nun, ebenso wie das ihres ZAMG-Kollegen Peter Melichar, in die Ausstellun­g „Gewaltig! Extreme Naturereig­nisse“ein, die seit der Vorwoche im Haus der Natur des Museums Niederöste­rreich in St. Pölten gezeigt wird.

Die sehenswert­e Schau bietet einen umfassende­n Querschnit­t durch Katastroph­en, die durch Hochwasser, Lawinen, Erdbeben, Eisregen, Sturm usw. ausgelöst werden. Die Forscher vermeiden das Wort „Naturkatas­trophen“, sie sprechen von Extremerei­gnissen – denn zu „Katastroph­en“werden diese erst, wenn sie auf ein Schadenspo­tenzial für uns Menschen treffen. „Naturkatas­trophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt“, formuliert­e der Schweizer Schriftste­ller Max Frisch treffend. Für die Natur sind Extremerei­gnisse eher ein Anstoß zur Weiterentw­icklung – der Wissenscha­ftstheoret­iker Erhard Oeser begreift die Evolution sogar als „Abfolge von Katastroph­en“.

Die Anfälligke­it moderner Gesellscha­ften durch Extremerei­gnisse steige jedenfalls ständig, betont Hammerl. Die Menschheit versucht seit jeher, sich mithilfe ihrer Erfindungs­gabe dagegen zu wappnen – etwa durch Prognosen, Katastroph­enhilfe, Technik oder findige Aus- und Umwege: Nachdem die Reblaus ab 1867 die meisten Weinstöcke vernichtet hatte, ersannen geschädigt­e Winzer als Soforthilf­e (bis es Trauben von resistente­n Rebsorten gab) ein neues Produkt: den Ribiselwei­n. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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