Die Presse am Sonntag

Ratschläge aus dem Graubereic­h

NŻch ©em Fett geriet zuletzt der Zucker in ©en Fokus. Im Zuge ©er DeãŻtte wir© ©Żãei zunehmen© hinterfrŻg­t, wie Ern´hrungsrich­tlinien üãerhŻupt zustŻn©e kommen. Experten klŻgen, ©Żss es ©Żzu viel zu wenig Stu©ien geãe. Un©: Letztlich ©ürfte es sogŻr egŻl

- VON TERESA SCHAUR-WÜNSCH UND KÖKSAL BALTACI

Rein, weiß und tödlich.“Was nach einem Kokainthri­ller klingt oder zumindest nach einem Ratgeber der modernen Ernährungs­panikliter­atur, ist in Wirklichke­it der Titel einer Publikatio­n aus dem Jahr 1972. „Pure, White and Deadly“nannte John Yudkin sein vor 45 Jahren erschienen­es Buch. 1995 starb der britische Physiologe und Ernährungs­wissenscha­ftler in London, enttäuscht und vergessen. Ob er geahnt hatte, dass sein Name irgendwann doch noch in aller Munde sein würde?

Für Yudkins Wiederentd­eckung gesorgt hat Robert Lustig, ein Experte für Fettleibig­keit bei Kindern an der University of California – freilich eher durch Zufall. Auf einem Kongress in Australien brandmarkt­e er ein Zuviel an Fructose als Gift. Er habe doch sicher Yudkin gelesen, fragte ihn daraufhin ein Teilnehmer der Konferenz. Lustig hatte noch nie von ihm gehört. Er grub das Buch aus und fand seine eigenen Erkenntnis­se.

Selbige Begebenhei­t schilderte der britische Journalist Ian Leslie im Vorjahr im „Guardian“unter dem Titel „Die Zuckervers­chwörung“. In „The Big Fat Surprise“hatte da zuvor schon die Journalist­in Nina Teicholz aufgerollt, wie es kommen konnte, dass in den USA lange Zeit vor allem Fleisch, Käse und Eier als Übeltäter auf dem Teller gelten konnten. Wissenscha­ftliche Bestätigun­g folgte im vergangene­n Herbst. Da erschien im prestigetr­ächtigen „Journal of the American Medical Associatio­n“eine Untersuchu­ng der University of California. Darin wird dokumentie­rt, wie die mächtige Zuckerlobb­y massiv intervenie­rte, nachdem 1962 die ersten Studien veröffentl­icht worden waren, die Zucker für Herzerkran­kungen verantwort­lich machten. Das sogenannte Project 226 wurde ins Leben gerufen – eine Stiftung zur Rettung des Zuckers: In ihrem Auftrag wurden Artikel prominente­r Harvard-Forscher veröffentl­icht, in denen die schädliche Wirkung von Zucker für das Herz herunterge­spielt wurde. Fett und Cholesteri­n wurden als Hauptbösew­ichte ausgemacht, Kritiker mundtot gemacht.

Dass Zucker egal sei, hatten freilich auch die Amerikaner nie behauptet, Diabetesfo­rscherin Alexandra Kautzky-Willer. doch die Stoßrichtu­ng war klar. 1980 gab die US-Regierung nach langen Beratungen mit den wichtigste­n Ernährungs­experten ihre erste Ernährungs­empfehlung heraus. Die bunt durchnumme­rierte Liste, im Internet heute noch abrufbar, rät zunächst zu „Vielfalt“und „Idealgewic­ht“, im dritten Punkt warnt sie vor zu viel Fett, gesättigte­n Fettsäuren und Cholesteri­n. Danach rät sie zu vollwertig­er Stärke und Ballaststo­ffen. Die Warnung vor zu viel Zucker folgt erst auf Punkt fünf.

Eine Auswahl mit Auswirkung­en: Kaum ein Urlauber dürfte in den vergangene­n Jahrzehnte­n nicht über die unüberscha­ubare Menge an Low-FatProdukt­en in amerikanis­chen Supermärkt­en gestaunt haben. Den zugesetzte­n Zucker (gerne verklausul­iert als Corn Syrup, ein Zuckerkonz­entrat aus Maissirup), übersahen die Kunden dabei offenbar leicht. Ab 1980, so der Brite Leslie, habe die Fettleibig­keitsrate im angloameri­kanischen Raum jedenfalls „abgehoben wie ein Flugzeug“.

Die massive Reaktion der Leser auf seinen Bericht, in dem er vor allem veranschau­licht, wie sich in der Wissenscha­ft manchmal bestimmte Meinun- gen gegen Kritiker durchsetze­n und Einfluss nehmen, habe ihn freilich dennoch überrascht. „Es ist ja schließlic­h nicht gerade eine Neuigkeit, dass Zucker schlecht für uns ist.“

Die Aufregung rührt vermutlich daher, dass sich die Menschen dennoch – auch zu Recht – getäuscht fühlen. Zumal auch die Lebensmitt­elindustri­e naturgemäß kein Interesse an Aufklärung hat. Fett und Zucker seien nun einmal die Geschmacks­träger, sagt Alexandra Kautzky-Willer, designiert­e nächste Präsidenti­n der österreich­ischen Diabetes-Gesellscha­ft. „Wann immer in Fertigprod­ukten Fett reduziert wurde, wurde meistens Zucker zugesetzt.“ Abbitte. Dass nun eine (vermeintli­che) Zucker-gegen-Fett-Debatte entbrannt ist, dürfte auch damit zusammenhä­ngen, dass den gesättigte­n Fettsäuren gegenüber zuletzt großflächi­g Abbitte geleistet wurde. „Eat Butter“knallte das „Time Magazine“im Sommer 2014 aufgrund neuer Studien einer Generation von braven Margarine-Essern auf den Frühstücks­tisch. Eine Wahl, der Kautzky-Willer durchaus etwas abgewinnen kann: Sie würde sich auch eher Butter als Margarine aufs Brot streichen, sagt sie. Dünn. (Ähnlich wurden zuletzt auch Eier exkulpiert, ihr hoher Gehalt an Cholesteri­n habe keinen Einfluss auf den Spiegel des Stoffs im Blut.)

Der neue Fokus auf den Zucker in der Ernährungs­diskussion offenbart dafür ein ganz anderes Grundprobl­em. Er wirft nämlich die Frage auf, wie Ernährungs­ratschläge überhaupt zustande kommen. „Was man generell sagen muss, ist, dass leider alle Studien in Bezug auf Ernährungs­strategien extrem schlecht sind“, sagt Alexandra KautzkyWil­ler. In anderen Worten: „Für das, was wir empfehlen, gibt es kaum Evidenz.“Sie spricht von einem „Graubereic­h“; stützen würden sich die Empfehlung­en etwa in Bezug auf Fett und Kohlenhydr­ate (und deren reinste Form Zucker) „vor allem auf epidemiolo­gische Untersuchu­ngen in großen Kohorten“, also die Analyse großer Bevölkerun­gsgruppen, die mit Body Mass Index, Diabetes oder Sterblichk­eit assozi-

Die University of CŻliforniŻ ©okumentier­t, wie ©ie Zuckerloãã­y intervenie­rte. »Für ©Żs, wŻs wir in Bezug Żuf Ern´hrung empfehlen, giãt es kŻum Evi©enz.«

iert würden. „Das ist wichtig, müsste aber die Basis sein, um in die Tiefe zu gehen. Doch da wird es eher dünn.“

Was fehle, seien kontrollie­rt randomisie­rte Untersuchu­ngen, bei denen sich eine bestimmte Gruppe etwa über einen fixen Zeitraum hinweg kohlenhydr­atarm und danach für die gleiche Dauer fettarm ernährt. Wie schwierig solche Studien sind, weiß die Internis- tin aus eigener Erfahrung. „Wir machen ja selbst Studien, bei denen wir Ernährungs­empfehlung­en geben und dann schauen, wie sich das etwa im Fall einer Fettleber oder eines metabolisc­hen Syndroms auswirkt.“Dabei müssen die Probanden genau aufschreib­en, was sie essen; ein Programm schlüsselt das Menü dann in die einzelnen Makronährs­toffe Eiweiß, Kohlenhydr­ate und Fette auf. „Das Problem ist: Da kommen oft sehr unrealisti­sche Werte heraus“, sagt Kautzky-Willer. „Das kann man oft einfach nicht verwerten, weil die Leute das nicht ehrlich ausfüllen. Stark Übergewich­tige würden demnach kaum etwas essen.“

Den gleichen Punkt beklagt Kurt Widhalm vom Österreich­ischen Akademisch­en Institut für Ernährungs­medizin in Wien. Er gibt daher auch wenig auf den österreich­ischen Ernährungs­bericht, der auf genau solchen Ernährungs­protokolle­n basiert. „Da schwindeln die meisten, die Ergebnisse liegen weit unter dem normalen Verbrauch.“

Untersuchu­ngen sin© schwierig, weil ©ie ProãŻn©en oft nicht ehrlich sin©.

Ungenutzte Daten. Auch er fordert daher mehr Forschung: „Wir brauchen gute wissenscha­ftliche Studien.“Stattdesse­n würden selbst die Daten, die es gibt, nicht genutzt. In den Schulen werden Kinder und Jugendlich­e regelmäßig gemessen und gewogen. „Das wird nirgends ausgewerte­t.“Auch fordert er „nachweisba­r wirksame Programme, nicht

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