KAREL SCHWARZENBERG
schen oder benehmen können. Ein beliebiges Beisel in Wien oder Prag: Nach dem dritten Glas Bier steht fest, dass alle Anwesenden mehr von Politik verstehen als die gesamte Politik. Sie wählen den, der ihnen entspricht. Diese Stimmung gab es immer schon. Sie hat sich nur sehr stark radikalisiert. Warum? Aus Frustration. Einer der Gründe dafür ist sicherlich, dass klassische Parteien hoffnungslos sind. Das gilt für Österreich und ganz Europa. Alle drei politischen Lager stammen aus dem 19. Jahrhundert. Die Einzigen, die seither eine neue Idee hatten, waren die Grünen. Sozial- und Christdemokraten haben nichts mehr Neues zustande gebracht. Zumindest schon länger nicht mehr. Die SPÖ und ÖVP sind nicht mehr zu retten. Das hat man bei der Präsidentenwahl gesehen. Es war ein Wahnsinn, Andreas Khol und Rudolf Hundstorfer aufzustellen. Ein anständiger Gewerkschafter und ein guter Jurist, aber genau die Symbole des Systems, das den Leuten auf die Nerven geht. Verzeihen Sie: Wollen Sie einen Tee machen aus einem Sackerl, das schon dreimal aufgegossen wurde? Das schmeckt niemandem. Es ist langweilig geworden. Deshalb geht auch keiner mehr in die Politik. Der Politikerberuf ist in unserer Neidgesellschaft uninteressant geworden. Wenn Sie 40 Jahre sind, halbwegs begabt und fleißig, erreichen Sie in der Wirtschaft viel mehr als in der Politik und haben keine kaputten Abende und Wochenenden. Natürlich steigen noch Leute ein mit der heimlichen Absicht, etwas zu verdienen, allerdings mehr als das Abgeordnetengehalt. Oder Idealisten. Oder Menschen, die Macht wollen. Idealisten gibt es wenige. Bruno Kreisky war der letzte Regierungschef, der eine Vision hatte, was Österreich sein könnte. Ich habe seither keinen Politiker gesehen, der sich darüber den Kopf zerbrochen hat. Daher ist Österreich für viele Junge uninteressant. Der Unterschied zwischen einem Politiker und einem Staatsmann ist, dass der eine eine Vision hat und der andere nur eine Agenda. Wie schätzen Sie Sebastian Kurz ein? Begabt. Gar kein Zweifel. Sein stiller Ehrgeiz ist ja offenbar, Parteichef zu werden. Leider setzt er viele außenpolitische Schritte, um das Publikum zu Hause einzunehmen. In der Außenpolitik agiert er populistisch. Das ist nicht gut. Wer mit 27 Außenminister wird, ist natürlich von sich selbst beeindruckt. In jedem zweiten Artikel in Österreich wird Kurz als einzige Hoffnung der Volkspartei beschrieben. Das steigt einem zu Kopf. Das ist menschlich verständlich. Aber so geht’s nicht. Wo agierte Kurz zuletzt populistisch in der Außenpolitik? Jeder Mensch weiß, dass die Türkei im heutigen Zustand unmöglich der EU beitreten kann. Deshalb liegen auch die Verhandlungen auf Eis. Laut zu verkünden, dass die Verhandlungen abgebrochen werden, war nur publikumswirksam von Kurz. Sonst gar nichts. Wie soll man mit Erdo˘gan umgehen? Ruhig, wie das bei Brüllaffen üblich ist. Vergessen Sie nicht: Die Türkei ist wirtschaftlich von Europa abhängig und nicht umgekehrt. Auch mich erfüllt mit Besorgnis, in welche Richtung die Türkei unter Erdogan˘ geht. Vor 20 Jahren war er in Istanbul der beste Bürgermeister. Heute ist er völlig durchgedreht. Er erinnert mich in manchem an Benito Mussolini. Wenn Mussolini 1935 der Schlag getroffen hätte, wäre er als großer Staatsmann in die Geschichte eingegangen. Erdogan,˘ fürchte ich, geht denselben Weg. Die Eitelkeit hat Mussolini zur Verbündung mit Hitler geführt, den er vorher verachtet hat. Sie beklagten vorhin den Mangel an Weitblick. Das fehlt auch in der EU. Es hat auch keiner eine Vision, was Europa sein könnte. Die klassischen Demokraten haben nichts anzubieten. Deswegen reüssieren auch Extremisten oder Komiker wie Beppe Grillo. Ich kann mich auch an ihre Vorgänger erinnern. Karl Marx war ein guter Historiker, er hatte recht: Jede geschichtliche Tragödie wiederholt sich als Farce – etwas anders als weiland unter Adolf oder Benito. Ist Trump Teil dieser Farce? Er ist neu. Ich hoffe, es wird keine Tragödie. Die Amerikaner hatten noch keinen Diktator. Ihnen fehlt dieses Grunderlebnis, das wir in Europa haben. Ich habe die Stiefel der Nazis noch gesehen und danach den Eisernen Vorhang. Erdo˘gan nähert sich an Putin an. Und Putin an Trump. Entsteht da gerade ein autokratischer Männerfreundschaftsbund? Es geht um Interessen. Putins Traum ist es, sich mit Trump auf Kosten Dritter Europa aufzuteilen. Das ist die wirklich große Gefahr, vor allem für das Baltikum und die Ukraine. Ideologisch hatte Russland mit den Amerikanern nur Differenzen, weil sie Demokratie exportieren wollten. Einer der großen Fehler des Westens in den vergangenen Jahrzehnten war, immer nur von Werten zu sprechen, die etwas unpräzise zu definieren sind, und dafür Regeln missachtet zu haben, die ich ja als Grundlage des Zusammenlebens sehe: zwischen- Ex-Außenminister Tschechiens