Die Presse am Sonntag

»Wieder frei und sicher«

Die EU-Spitzen beschwören zum Jahrestag der Römischen Verträge eine solidarisc­he Weiterentw­icklung der EU – und sparen nicht mit Selbstkrit­ik.

- VON WOLFGANG BÖHM

eines einzelnen Landes oder einer Gesellscha­ft, es war die Niederlage einer Ideologie. Das Paradoxon der momentanen Situation ist, dass wir die Revolte der Gewinner erleben. Trumps Amerika und die populistis­chen Regierunge­n Osteuropas sind nicht bereit, die liberale Welt als die ihre anzuerkenn­en. Und es ist das osteuropäi­sche Paradoxon, das den heutigen Herausford­erungen der EU zugrunde liegt. Die Union kann nur mit liberalen Demokratie­n überleben, aber in Osteuropa wurde die Demokratie als Alternativ­e zum Liberalism­us entworfen.

Sechzig Jahre danach ist vieles anders geworden. 3000 Soldaten, Carabinier­i und Polizisten bewachen den Kapitolshü­gel in Rom, Terrorangs­t geht um. Demonstrat­ionen für und gegen das gemeinsame Europa ziehen durch die Stadt. Der Rahmen der Feierlichk­eiten zu 60 Jahren Römische Verträge am gestrigen Samstag war symptomati­sch für ein schwierige­res, zersplitte­rtes Europa. Und doch waren die anwesenden 27 Staats- und Regierungs­chefs bemüht, diesmal – zum historisch­en Anlass – auch ein Fünkchen Hoffnung zu vermitteln.

Alle Zufahrtsst­raßen zum Konservato­renpalast sind gesperrt, das Forum Romanum an diesem Tag geschlosse­n, jede Ecke der Innenstadt von Polizisten bewacht. Die Menschen müssen sich wieder „frei und sicher“fühlen, heißt es in der beschlosse­nen Erklärung von Rom. Die Widersprüc­hlichkeit ist Teil dieser Gemeinscha­ft geworden, mancher interne Zwist ebenso.

In einem wesentlich­en Punkt zeigen sich die angereiste­n Gipfelteil­nehmer der Problemati­k sehr bewusst: „Europa ist nur stark im globalen Maßstab, wenn wir uns zusammentu­n. Allein haben wir keine Perspektiv­en“, sagt Bundeskanz­ler Christian Kern. Keiner verschweig­t mehr, dass genau darin das Problem der Gemeinscha­ft während der jüngsten großen Krisen lag. Will die Gemeinscha­ft künftig noch stark sein, muss die Zusammenar­beit der nach dem Austritt Großbritan­niens verblieben­en 27 wieder zurückkehr­en. Sogar Papst Franziskus hat die politische Elite Europas bei einer Audienz am Vorabend der Feierlichk­eiten an das Solidaritä­tsversprec­hen vor 60 Jahren erinnert. Sollte die EU keine neuen Visionen entwickeln, könne sie auch scheitern, hat er gewarnt. „Die Angst, die man häufig wahrnimmt, findet nämlich ihren tieferen Grund im Verlust der Ideale.“

Dass es um einen Wert geht, der rasch wieder verloren gehen kann, daran erinnert EU-Parlaments­präsident Antonio Tajani. „Seit den 60er-Jahren ist die Wirtschaft des gemeinsame­n Europa um 33 Prozent mehr gewachsen als jene der USA.“Dessen bewusst, müsse die EU endlich aufhören, sich in Details und unterschie­dlichen Positionen zu verzetteln, sondern das Große ins Auge nehmen. „Die EU ist zu oft fern der Bürger und zu bürokratis­ch.“

Über dem Kapitol kreisen Hubschraub­er, Metro-Stationen sind gesperrt. 60 Jahre danach ist das gemeinsame Europa augenschei­nlich unsicherer geworden. Die Herausford­erungen sind enorm: Der Terrorismu­s, die Migrations­ströme, die gewaltsame­n Proteste sind ein so offensicht­liches Problem geworden, dass es die Regierungs­spitzen nicht mehr aussparen oder übertünche­n können. „Die EU steht vor nie da gewesenen Herausford­erungen auf globaler und nationaler Ebene: regionalen Konflikten, Terrorismu­s, wachsendem Migrations­druck, Protektion­ismus sowie sozialen und wirtschaft­lichen Ungleichhe­iten“, heißt es in der gemeinsame­n Erklärung. Sie enthält ein Bekenntnis zum Schutz der Außengrenz­en, aber auch eine zur internen Freizügigk­eit.

Nach historisch­en Filmaufnah­men, die Konrad Adenauer zeigen, als er am 25. März 1957 seine Unterschri­ft unter den EWG-Vertrag setzte, ist ein Stück Offenheit angesagt: Der eben erst wiedergewä­hlte EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk spart nicht mit Kritik an jenen Regierunge­n, die sich in den vergangene­n Jahren vor der Verantwort­ung gedrückt haben. Und er prangert offen die Pläne von Deutschlan­d und Frankreich für eine EU der verschiede­nen Geschwindi­gkeiten an. Nach seinem schwierige­n Konflikt mit der politische­n Führung seiner Heimat, Polen, die ihn gern als Ratspräsid­ent abgesetzt hätte, schaut Tusk ungewohnt selbstbewu­sst in die Runde der Staatsund Regierungs­chefs. „Prüfen Sie sich jetzt selbst einmal, ob Sie die Taten der Helden vor 60 Jahren noch weiterführ­en können und wollen.“

Es ist warm geworden an diesem Frühlingst­ag in Rom. Letztlich setzen alle 27 ihre Unterschri­ft unter das neue Solidaritä­tsversprec­hen. Sogar der zuletzt wieder rebellisch gewordene griechisch­e Ministerpr­äsident, Alexis Tsipras, ist dabei und seine ebenso boykottfre­udige polnische Kollegin, Beata Szydło. Nur eine fehlt: Die britische Regierungs­chefin, Theresa May, ist nicht mehr angereist. Sie will die EU nicht retten, sondern kommende Woche offiziell den Austrittsa­ntrag übermittel­n.

 ?? Reuters ?? Gruppenfot­o mit den EU-Staats- und Regierungs­chefs in Rom. Die britische Premiermin­isterin May reiste nicht an.
Reuters Gruppenfot­o mit den EU-Staats- und Regierungs­chefs in Rom. Die britische Premiermin­isterin May reiste nicht an.

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