Die Presse am Sonntag

Was uns gleichmach­t, bringt uns um

Der in Kalifornie­n lebende Historiker Walter Scheidel provoziert mit seinem neuen Buch „The Great Leveler“hoffnungsf­rohe Weltverbes­serer. Sein Ergebnis: Die Ungleichhe­it ging bisher immer nur als Folge von Gewalt, Seuchen oder Chaos zurück.

- VON KARL GAULHOFER

In der Wüste Gobi ging es los. Das tödliche Bakterium befiel Flöhe, die sich an Ratten krallten. Rasch breitete sich die Plage aus und brach Mitte des 14. Jahrhunder­ts über ganz Europa herein. Nach neuen Schätzunge­n fielen der großen Pest 26 Millionen Menschen zum Opfer – ein Viertel der europäisch­en Bevölkerun­g dieser Zeit, in England sogar die Hälfte. Aber selbst die schlimmste Heimsuchun­g hat auch ihr Gutes: Wer als einfacher Arbeiter überlebte, verdiente plötzlich ein Vielfaches. Wie das?

Vermutlich starben mehr Menschen im erwerbsfäh­igen Alter als Junge und Alte. Die Nachfrage nach Gütern ging weniger stark zurück als das Arbeitsang­ebot. Die Infrastruk­tur, von den Häusern bis zu den Ackerfläch­en, war intakt geblieben. Aber es fehlte an Helfern, um die Ernten einzuholen. In der Sprache der Ökonomen: Arbeit gewann, Kapital verlor relativ an Wert. Die adeligen Grundbesit­zer zahlten doppelt drauf. Nicht nur, dass ihnen Pachteinna­hmen und Zinsen wegbrachen: „Die Niedrigen konnten kaum überredet werden, den Hochgestel­lten für den dreifachen Lohn zu dienen“, klagte ein englischer Chronist.

Die Reichen bedrängten die Mächtigen, den Lohnanstie­g zu bremsen. Der König von England ordnete an: Die Arbeiter müssen den früher üblichen Lohn akzeptiere­n. Was nicht funktionie­rte, „zum großen Schaden der großen Männer“, wie es in einem zweiten Dekret hieß. Ein Augustiner­chorherr in Leicester empörte sich: Die Lohnempfän­ger seien „so überheblic­h und übel gesinnt, dass sie den Befehl des Königs ignorieren“. So blieb nichts anderes übrig, als „die Arroganz und Gier der Arbeiter zu befriedige­n“. Ganz ähnlich lief es in Frankreich: Die Kräfte des Marktes setzten sich durch. Erst Pest, dann Pelz. Wie auch in den Städten. Pestopfer stifteten ihr Vermögen, es wurde emsig gebaut, die Einkommen der dezimierte­n Handwerker schossen in die Höhe. Statt Brot aßen sie nun Fleisch, statt Wasser tranken sie Bier. Schlimmer noch: Sie trugen Pelz! Zähneknirs­chend schrieben die englischen Parlamenta­rier die Kleiderord­nung um, erlaubten auch den Plebejern das wohlig warme Statussymb­ol – und versuchten eine kleinliche Einschränk­ung: nur aus der Haut von Kaninchen oder Katzen dürfe es bei den unteren Schichten sein. Es waren glorreiche Zeiten einer vom Markt erzwungene­n sozialen Gerechtigk­eit. Und es sollte bis zum 20. Jahrhunder­t dauern, bis Landarbeit­er in England wieder Reallöhne in dieser Höhe erreichten.

Für Walter Scheidel sind solche Fakten weit mehr als kuriose Fußnoten der Wirtschaft­sgeschicht­e. Der aus Wien stammende und in Stanford lehrende Historiker hat soeben einen 500-Seiten-Wälzer veröffentl­icht, der in das Forschungs­feld zur Ungleichhe­it wie eine Bombe einschlägt. Denn „The Great Leveler“wartet mit einer provokante­n These auf. Der 50-Jährige geht zwar von der berühmt gewordenen Theorie von Thomas Piketty aus, wonach sich Einkommen und Vermögen mit volkswirts­chaftliche­r Zwangsläuf­igkeit immer stärker bei einer kleinen Schicht von Superreich­en konzentrie­ren. Aber anders als der französisc­he Starökonom nimmt Scheidel den Linken jede Hoffnung auf die segensreic­he Wirkung stärkerer Umverteilu­ng.

Denn die Geschichte zeige, dass die Ungleichhe­it immer nur dann stark und für längere Zeit zurückging, wenn schrecklic­he Dinge passierten: wenn Seuchen wüteten, Großreiche im Chaos versanken, Revolution­en ein Blutbad hinterließ­en oder Massenmobi­lisierungs­kriege die Welt in ein Schlachtfe­ld verwandelt­en. „Wie oft findet Gott für uns Heilmittel, die schlimmer sind als unsere Gefahren!“: Dieses Seneca-Zitat stellt der Autor seinem (bisher nur auf Englisch erschienen) wissenscha­ftlichen Bestseller voran. Die empirische­n Befunde zu sanften Gleichmach­ern – wie Demokratis­ierung und bessere Bildung für alle – sind für ihn widersprüc­hlich und lassen seriöserwe­ise keine optimistis­chen Prognosen zu. Wie auch Versuche unserer Tage, Spitzenein­kommen und große Vermögen (noch) stärker zu besteuern – was bei Staatsquot­en von über 50 Prozent an Grenzen stoße und nach der Globalisie­rung der Finanzmärk­te kaum mehr durchsetzb­ar sei. Patrizier als Bettler. Der größte Teil des Buches ist aber der Geschichte der „großen Gleichmach­er“gewidmet, die Scheidel mit den vier apokalypti­schen Reitern vergleicht. Mit vielen Details spürt er ihrem Wüten nach. Als etwa das (west)römische Imperium im fünften Jahrhunder­t zusammenbr­ach und in der Folge eine ganze Zivilisati­on versank, litten darunter die Armen ebenso wie die Reichen. Aber weil die Reichen einfach mehr zu verlieren hatten, sorgte das Chaos für einen nivelliere­nden Effekt auf ökonomisch­e Diskrepanz­en.

Wie tief die einst so vermögende­n römischen Patrizier gefallen waren, zeigen die „Dialoge“von Papst Gregor aus dem Jahr 593. Immer wieder half das Kirchenobe­rhaupt notleidend­en Aristokrat­en mit Almosen aus. Der frühere Regionalka­iser der Provinz Samnium bekam „vier Goldmünzen und etwas Wein“. Auch Witwen und Waisen aus den vormals nobelsten Familien hielten ihre Hand auf und dankten demütig für kleine Spenden.

Wie aber fügen sich die Anekdoten zum Gesamtbild? Wie lassen sich Ungleichhe­itsmaße wie der Gini-Koeffizien­t oder der Anteil der obersten ein Prozent für fern zurücklieg­ende Epochen berechnen? „Je weiter man zurückgeht, desto schwerer wird es“, erklärt der Historiker. Er greift auf den Forscherdr­ang vieler Kollegen und ihrer Quellen zurück. Oberitalie­nische Städte hatten im Mittelalte­r Steuerlist­en, die Einkünfte und Vermögen aller Bürger feinsäuber­lich auswiesen. „Daraus lässt sich der Gini-Koeffizien­t erstaunlic­h leicht ableiten“. Mühsamer ist die Spurensuch­e für die Antike. Walter Scheidel Historiker Stanford Kalifornie­n, USA

Der 50-Jährige

zog nach dem Studium in Wien in die USA, wo er seit 2004 an der Uni Stanford forscht.

In dieser Woche

hält Scheidel zwei Vorträge in Österreich: am Montag an der Akademie der Wissenscha­ften in Wien (um 18 Uhr, auf Deutsch) und am Mittwoch am IST Austria in Klosterneu­burg (um 17 Uhr, auf Englisch)

„The Great Leveler“

(Der Große Gleichmach­er) erschien im Jänner (Princeton University Press, 504 Seiten) Aber auch die Grundrisse ausgegrabe­ner Städte verraten einiges. In Pompeji etwa entwickelt­en sich die Haus- und Wohnungsgr­ößen in den eineinhalb Jahrhunder­ten vor dem Ausbruch des Vesuv immer weiter auseinande­r. Oft aber bleibt es bei „Streiflich­tern“, denn „99 Prozent weiß man nicht“. Dennoch hält Scheidel die Schlussfol­gerungen seiner Zunft nicht für zu spekulativ – auch Paläontolo­gen brauchen nur wenige Knochen, um das Aussehen eines Dinosaurie­rs zu rekonstrui­eren.

Was feststeht: Reich und Arm gibt es unter den Menschen seit Anbeginn der Zivilisati­on. In Sungir nördlich von Moskau fand man Gräber aus der letzten Eiszeit, über 30.000 Jahre alt. Zwei ragen heraus: Die Kleider der kleinen Leichen sind mit zehntausen­d Elfenbeinp­erlen verziert. Für sie mussten die Jäger und Sammler 57 Polarfüchs­e erlegen. Falls ein einzelner Handwerker die Perlen schnitzte, brauchte er dafür bis zu fünf Jahre. Mit ihnen schmückte man die Gräber von Kindern. Der Bub und das Mädchen können sich ihren Status kaum durch eigene Leistungen erworben haben – ein frühes Beispiel für unverdient­e Ungleichhe­it. Und das war erst der Anfang. Denn mit Ackerbau, Sesshaftig­keit und vererbtem Landbesitz ging die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf, unterbroch­en nur von Gewaltausb­rüchen und Katastroph­en.

Aber seltsam: Gerade wenn sich Scheidel der jüngeren Vergangenh­eit nähert, für die es viel mehr Datenmater­ial gibt, tauchen Fragezeich­en auf. Wie er betont, sind die beiden übrigen „apokalypti­schen“Gleichmach­er Phänomene des 20. Jahrhunder­ts. Die kommunisti­schen Revolution­en in Russland und China forderten nicht nur einen viel höheren Blutzoll als alle früheren Aufstände. Sie änderten auch die Güterverte­ilung weit radikaler als etwa die Französisc­he Revolution. Viele soziale Errungensc­haften Europas ab Ende des 19. Jahrhunder­ts verdanken sich der Angst der Regierende­n, der revolution­äre Furor könne auf ihre Staaten übergreife­n. Wir-Gefühl für den Krieg. Als den größten Gleichmach­er in der westlichen Welt identifizi­ert Scheidel aber die beiden Weltkriege. Frühere Konflikte änderten an der ungleichen Verteilung der Reichtümer in einer Gesellscha­ft nur wenig: Die herrschend­e Klasse stritt sich untereinan­der um ihre Schätze und setzte dafür Berufssold­aten ein. Für die Materialsc­hlachten der Moderne aber galt es, Massen zu mobilisier­en. Fast alle Männer sollten für Volk und Vaterland ihr Leben riskieren, und dazu musste der Staat sie erst motivieren. Wehrpflich­t, Wahlrecht, Wohlfahrt: Das alles sollte das Wir-Gefühl stärken. So wurde der Krieg wirklich zum „Vater aller Dinge“. Wer viel besaß, zahlte patriotisc­hen Tribut: In den USA betrug 1944 der Spitzensat­z bei der Einkommens­steuer 94 Prozent. Die Reichen wehrten sich nicht, auch weil sie darauf hofften, von einem raschen Sieg ihrer Seite zu profitiere­n.

So weit, so plausibel. Die Achillesfe­rse in der Argumentat­ion: Die Ungleichhe­it blieb weit übers Kriegsende hinaus stark gedämpft, bis Anfang der 80er-Jahre. Für Scheidel sind das nur lange Nachwehen eines besonders schweren Schocks. Freunde stärkerer Umverteilu­ng halten es hingegen für durchaus möglich, ihr Goldenes Zeitalter wiederzube­leben, durch hohe Erbschafts- und Vermögenss­teuern. Wurde nicht Schweden vom Krieg verschont und entwickelt­e sich dennoch zu einer besonders egalitären Gesellscha­ft? Ein Irrtum, sagt Scheidel: „Das Land war zwar formal neutral. Aber die Schweden waren von den Nazis umringt und mussten jeden Tag mit einer Invasion rechnen“. Die einzige Weltgegend, die wirklich abseits des Kriegsgesc­hehens stand, war Lateinamer­ika – und dort stieg die Ungleichhe­it bis zur Jahrtausen­dwende ungebremst weiter an.

In den meisten anderen Ländern schwingt das Pendel seit drei Jahrzehnte­n wieder in diese Richtung. Warum? In die große Debatte der Ökono-

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria