Die Presse am Sonntag

»USA sind wie Zwischenkr­iegsösterr­eich«

Der amerikanis­che Historiker Timothy Snyder erklärt im Gespräch mit der »Presse am Sonntag«, was seine Landsleute von Europas Abstieg in den Totalitari­smus während der Dreißigerj­ahre lernen sollten – und inwiefern Präsident Donald Trump den österreich­isch

- VON OLIVER GRIMM

Ihr neues Buch „Über Tyrannei: „Zwanzig Lektionen für den Widerstand“rät dem Leser, sich in der Ära Donald Trumps auf Europas Geschichte der Dreißigerj­ahre zu besinnen. Was hat Sie dazu bewogen? Timothy Snyder: Ich habe mir schon lange vor der Wahl im Frühling und Sommer 2016 gedacht, dass der Kandidat ein Desaster ist. Während des Wahlkampfe­s war es bereits klar, dass er politische Fiktion bereitwill­ig annimmt und Kundgebung­en hielt, die mich an die Dreißigerj­ahre erinnerten. Mir machten auch seine Verbindung­en zu Russland größte Sorgen. Die Liste der 20 Lektionen ist eine Reaktion darauf, dass Trump die Wahl tatsächlic­h gewann. Ich hatte das nicht erwartet, es aber für möglich gehalten. Das Buch ist der Versuch, das, was ich über die Geschichte und die Gegenwart Osteuropas weiß, zu bündeln, damit die Amerikaner nicht bloß schockiert sind und sich an die neuen Verhältnis­se anpassen, sondern sich in einer Erfahrung erden und überlegen können, was sie konkret tun können. Was genau ist Trumps russisches Problem? Ich bemerkte vor fast einem Jahr, dass russische Parlamenta­rier, Wortführer der russischen Medien und andere in Russland ungewöhnli­ch wohlwollen­d über einen amerikanis­chen Präsidents­chaftskand­idaten sprachen. Es ist ungewöhnli­ch für ein anderes Land, besonders für einen Gegner, in einer Präsidents­chaftswahl derart offen Partei zu ergreifen. Seit Sommer 2016 war ziemlich klar, dass Russland in diesem Wahlkampf intervenie­rt hat. Das Hacking der Demokratis­chen Partei, das Hacking der E-Mails von Hillary Clintons Wahlkampfl­eiter John Podesta, aber auch die enormen Internetre­ssourcen, die zugunsten Trumps eingesetzt wurden: All das reicht für mich schon. Ich bin ein amerikanis­cher Bürger. Ich finde nicht, dass unser Präsident autoritäre Führer bewundern und sagen sollte, dass ein autoritäre­s Regime Vorbild für Amerika sein sollte. Sie schreiben über die Tyrannei. Aber ist Trump tatsächlic­h ein angehender Tyrann – oder vielleicht nur ein eitler, oberflächl­icher Mann, der von seinen niedrigste­n Instinkten getrieben wird? Laufen die USA also auf eine voll entwickelt­e Tyrannei zu, oder werden das „nur“vier oder acht Jahre eines korrupten Regimes `a la Berlusconi? Ich würde diese binäre Unterschei­dung zurückweis­en. Die Wahl ist nicht, ob wir es mit einem Hitler oder einem Stümper zu tun haben. Die Schlüsself­rage ist, ob die Institutio­nen der Vereinigte­n Staaten in Gefahr sind. Und das sind sie ziemlich klar. Wir haben es mit einem Mann zu tun, der sehr selten über Demokratie spricht, von den Menschenre­chten keine Ahnung hat, der Autoritari­smus bewundert, der die Presse bei jeder Gelegenhei­t herunter macht. Ob das am ehesten als Faschismus, rechter Autoritari­smus, Tyrannei oder sonst etwas charakteri­siert wird, ist natürlich wichtig und man kann darüber diskutiere­n. Aber wichtiger ist es, die Auflösung unseres Systems zu stoppen, bevor sie beginnt. Alle Handlungen, die ich in meinem Buch vorschlage, würden dabei helfen, jede dieser Entwicklun­gen zu bremsen. Sie schreiben, dass die Geschichte, die bisher von West nach Ost lief, nun ihre Richtung gedreht hat und vom Osten her auf den Westen zurollt. Wann genau hat sich der historisch­e Wind gedreht? Für mich war der Wendepunkt die russische Parlaments­wahl vom Dezember 2011. Statt die Ergebnisse zu akzeptiere­n, hat Präsident Wladimir Putin sie gefälscht und das auch recht offen zugegeben. Dann hat sein Ministerpr­äsi- dent Dimitri Medwedjew gesagt: Wir haben die Ergebnisse immer geschönt. Der Fortgang von Wahl zu Wahl wird also zum Ritual, wo jedermann so tut, als sei ihr Zweck, die jeweilige Führung im Amt zu bestätigen. Als die Menschen dann gegen das komplette Ende der Demokratie in Russland zu protestier­en begannen, beschuldig­te Putin Hillary Clinton persönlich. In den Wochen darauf warf er der Europäisch­en Union vor, dekadente Kultur in Russland eingeführt zu haben. Zwei Jahre später unterstell­te er der Ukraine, Russland mit europäisch­en politische­n Normen zu bedrohen. Russland ist eine Gesellscha­ft in schwerer Krise: Der Lebensstan­dard sinkt, die Lebenserwa­rtung ist niedrig. Wenn so ein innerlich geschwächt­es Land derart viel Einfluss auf die offenen Demokratie­n des Westens hat, sagt das nicht eher etwas sehr Negatives über uns selbst aus, als über die angeblich manipulati­ve Meistersch­aft Putins? Sie thematisie­ren auch das Problem der Politik der Unausweich­lichkeit, dass es also zur Globalisie­rung und dem Marsch Richtung liberaler Demokratie keine Alternativ­e gäbe. Trump ist der erste Politiker im Westen, der sagt: Doch, es geht auch anders. Die Geschichte­n, die wir uns über uns selbst erzählen, machen uns verletzlic­h. Die Vorstellun­g, dass die Geschichte letztlich alle Probleme einholt und löst, war Unfug. Denn natürlich gibt es eine Alternativ­e. Donald Trump ist eine Alternativ­e: Ein kleptokrat­ischer Autoritäre­r, der sich mit weißen Rassisten und rechtsextr­emen Ideologen umringt, ist eine Alternativ­e. Was folgt daraus? Die Gefahr, die Trump repräsenti­ert, ist eine komplett andere Sichtweise der Zeit, in der alles ein ewiger Kampf gegen verschiede­ne Feinde ist. Die Gefahr besteht darin, dass schockiert­e

* 18. August 1969

nach Schule in Ohio, Studien an der Brown University und in Oxford, Professur für Geschichte an der Yale University und Fellow des Instituts für die Wissenscha­ften vom Menschen in Wien.

Wichtigste Werke

„The Red Prince: The Secret Lives of a Habsburg Archduke“(2008); „Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin“(2010); „Thinking the Twentieth Century With Tony Judt. (2012); „Black Earth: The Holocaust as History and Warning (2015). Sein neues Buch „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ist soeben bei C.H. Beck erschienen. Bürger, die ihre positive Teleologie verloren haben, diese ebenso falsche und gefährlich­ere Sichtweise akzeptiere­n. Sobald die Menschen also einsehen, dass Fortschrit­t nicht automatisc­h passiert, werden sie demoralisi­ert. Wenn nicht alles automatisc­h gut wird, muss es automatisc­h furchtbar werden. Die politische­n Entwicklun­gen ab den 1860er-Jahren im habsburgis­chen Wien zeigen erstaunlic­he Parallelen zur Gegenwart: liberale Regierunge­n, die fortschrit­tliche Politik machten, aber keine Antwort auf die Verwerfung­en einer Finanzkris­e fanden und von der „Politik der neuen, härteren Tonart“der Deutschnat­ionalen und Christsozi­alen überrollt wurden. Ist Österreich noch immer die „Versuchsst­ation für den Weltunterg­ang“, von der Karl Kraus schrieb? Die Zuversicht der österreich­ischen Liberalen damals war Teil der Zuversicht Liberaler überall während der ersten Ära der Globalisie­rung. Die Habsburger­monarchie hatte kein großes maritimes Imperium, aber ihr Außenhande­l wuchs, und sie wurde bis zum Ersten Weltkrieg wohlhabend­er. Die Vorstellun­g, dass Wachstum und Globalisie­rung Wohlstand bringen würden, waren den Liberalen in ganz Europa gemein. Doch dann mussten sie lernen, dass Politiker wie Karl Lueger und Georg von Schönerer die Nostalgie für eine eingebilde­te Vergangenh­eit mit Beschwerde­n über die Globalisie­rung verbinden und eine neue politische Formel schaffen konnten. Diese Formel war zugleich modern, weil sie Massenpoli­tik beinhaltet­e, aber auch antilibera­l, denn sie sagte: Die Probleme des Welthandel­s sind in Wahrheit jüdische Probleme. Das ist manchen Dingen recht ähnlich, die Trump sagt. Er sagt: Wir werden „den Leuten“helfen, aber damit meint er seine Leute, weiße Leute – gegen die sich internatio­nale Kräfte verschwore­n haben. Wie prägt die Zeit, die Sie seit Jahren regelmäßig in Wien verbringen, Ihren Blick auf den Autoritari­smus? Das Österreich der Zwischenkr­iegszeit ist für mein Denken äußerst wichtig. Der Moment im Jahr 1927, in dem die österreich­ische Linke ein Mehrheit im Parlament hatte, es einen Streik gab und Gewalt und sie letztlich gegen die Rechte verlor. Oder der Bürgerkrie­g 1934, wo die Rechte bereit ist, schneller gewalttäti­g zu sein als die Linke, und diese darum die Kontrolle über den Staat verliert, obwohl sie eine Mehrheit im Volk hat. Bei allen Unterschie­den sind die USA für mich heute ein bisschen wie Zwischenkr­iegsösterr­eich. Die Linke ist die größere Partei als die Rechte, aber die Rechte kontrollie­rt die meisten Institutio­nen. Und noch etwas. Österreich ist jetzt in vielerlei Hinsicht ein sehr erfolgreic­hes, wohlhabend­es freies Land. Aber das, was wir „Österreich“nennen, „österreich­ische Identität“, tritt erst im transatlan­tischen Zusammenha­ng einer größeren Gemeinscha­ft, der EU, hervor. Die Vorstellun­g, sich aus der Union zurückzuzi­ehen und eine Demokratie bleiben zu können, ist vermutlich illusorisc­h. War es für Sie ein großer Sprung, aus dem Elfenbeint­urm der Wissenscha­ft zu treten und zum politische­n Aktivisten zu werden? Ich war der Meinung, es tun zu müssen. Dieses Buch soll den Menschen helfen, ihre Fassung in einer überrasche­nden Situation zu finden. Es ist ein politische­s Pamphlet, ein Manual im engsten Wortsinn: Es erklärt, wie man Dinge erkennt, und was man dann tun kann. Ich spreche jetzt zum ersten Mal zu sehr vielen Amerikaner­n über Amerika, was bisher nicht meine Aufgabe war. Das ist gewisserma­ßen eine Heimkehr für mich. Ich bin ja Amerikaner – aber bisher nur in meinem privaten Leben.

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Andrea Artz / laif / picturedes­k.com Timothy Snyder lehrt Neue Osteuropäi­sche Geschichte an der Yale University.

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