Die Presse am Sonntag

»Freiheit muss man an sich reißen«

»Ich bin geradezu besessen von der Idee der Freiheit«, sagt Gottfried Helnwein. In Los Angeles fühlt er sich frei, weil es in der Stadt eine Toleranz gebe, »die nicht auf hohen ethischen Prinzipien basiert«. Angst vor Donald Trump hat er nicht und kann si

- VON JUDITH HECHT

Wieso haben Sie für unser Treffen das Caf´e Bräunerhof vorgeschla­gen? Gottfried Helnwein: Das ist mein Lieblingsc­afe,´ weil es unveränder­t ist. Es gibt noch immer dieselben durchgeses­senen Bänke, da stimmt alles. Diese alte Ästhetik verschwind­et ja immer mehr, alles wird zu Tode renoviert und durch irgendetwa­s grausliche­s Neues ersetzt. Aber hier ist alles authentisc­h, das Kaffeehaus ist noch immer so, wie ich es aus meiner Jugend kenne. Eines der wenigen in Wien, das sich nicht verändert hat. Ja, wenn ich durch die Stadt fahre, merke ich, wie das Wien, das ich kenne, verschwind­et. Mir fällt auf, wie systematis­ch Architektu­r zerstört wird. Es gibt nur mehr ganz wenige Häuser, die aus dem alten Wien sind. Die meisten Gebäude wurden ersetzt, entkernt oder haben irgendwelc­he grauenhaft­en Dachaufbau­ten. Häuser, die zitronenge­lb, orange, erbsengrün sind. Die Leute machen, was sie wollen, ohne irgendein ästhetisch­es Prinzip. Hauptsache, es ist asymmetris­ch, verzerrt und sieht irgendwie „modern“aus. Das Problem mit zeitgenöss­ischer Architektu­r ist, dass sie keine kulturelle Identität hat. Jedes dieser Häuser könnte genauso in Bukarest, Düsseldorf oder Dublin stehen. Außerdem altern diese Gebäude schlecht. Nach zwanzig Jahren sehen sie so herunterge­kommen aus, dass man sie eigentlich wieder abreißen müsste. Historisch­e Bauten hingegen werden mit dem Alter immer besser. Woran liegt das? Ich glaube, zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts – und besonders durch die beiden Weltkriege – ist unser gesamtes Wertesyste­m zusammenge­brochen und damit auch unsere ästhetisch­en Fundamente. Es ist so, als hätte man uns den Boden unter den Füßen weggezogen. In der Postmodern­e haben wir jegliche Orientieru­ng verloren. Viele Architekte­n sehen sich als die wahren Genies, die es der Welt nun zeigen wollen. Bauten werden wie Kunstobjek­te behandelt, die durch willkürlic­he, sinnlose Verzerrung und Dissonanz provoziere­n oder beeindruck­en sollen, aber nicht mehr als etwas, was einer bestimmten Funktion und den Menschen dienen soll. Ist das ein österreich­isches Spezifikum? Nein, das ist weltweit so. In Italien ebenso wie in Irland oder Los Angeles, es ist ein weltweites Phänomen. Die über Jahrtausen­de gewachsene kulturelle Substanz schmilzt weg wie die Gletscher, beschleuni­gt durch die Dynamik des Kapitalism­us. Inwiefern? Es geht ums Geschäft. Die Verfallsda­uer muss verkürzt werden, damit immer mehr und immer schneller produziert, gebaut und gekauft werden muss. Es ist das Prinzip dessen, was der Regisseur Pier Paolo Pasolini schon in den Sechzigerj­ahren als Konsumterr­or, als den Neuen Faschismus, bezeichnet hat. Das Hauptsujet Ihrer Arbeit ist das Kind. Wie haben Ihre vier Kinder auf Ihre Bilder reagiert? Das war kein besonderes Thema, weil meine Kinder ja praktisch im Atelier aufgewachs­en sind und die Bilder mit den verzerrten und bandagiert­en Gesichtern für sie immer selbstvers­tändlich waren. Sie dachten wahrschein­lich, so ist die Welt. Fast alle meine Kinder sind mir Modell gestanden, das war Teil ihres Lebens.

1948

wurde der Maler Gottfried Helnwein in Wien geboren. Er ist verheirate­t und hat vier Kinder.

1969 bis 1973

Von studierte er Malerei in der Meisterkla­sse von Rudolf Hausner an der Akademie der bildenden Künste. Seine ersten Ausstellun­gen löste heftige Proteste aus. Der Künstler übersiedel­te daraufhin nach Deutschlan­d,

lebt er in Irland, fühlt er sich auch in Los Angeles zu Hause.

seit 1997 seit 2002

Das dominante Sujet in Helnweins Werken ist das Kind. fand in San Francisco die Ausstellun­g „The Child“statt. Über 127.000 Menschen besuchten diese Ausstellun­g.

2013 2004

fand eine Retrospekt­ive in der Albertina statt, die die erfolgreic­hsten Ausstellun­g eines zeitgenöss­ischen Künstlers in diesem Museum war. Wie haben Ihre Kinder Ihr Leben verändert? Der Moment, in dem mein erstes Kind zur Welt kam, war eine große Erleichter­ung. Erst dann war das Leben so, wie es sein soll. Ich wollte immer Kinder, je mehr, desto besser. Mein Ideal ist die italienisc­he Großfamili­e, in der alle beisammen sind und es immer laut ist. Und auch viel gestritten wird. Wie haben Sie Konflikte mit Ihren Kindern ausgehalte­n? Ich habe mit unseren Kindern niemals Streit, Konflikte oder Stress gehabt. Wie gelingt das? Es gibt nichts Einfachere­s als die sogenannte Erziehung von Kindern. Das Einzige, was Kinder brauchen, sind Freiheit und Respekt. Alles andere bringen sie selbst mit: Spontanitä­t, Intuition, Kreativitä­t, Imaginatio­n und Vision. Sie haben noch diese letzte Verbindung zu einer magischen Welt, die für uns Erwachsene in der Regel für immer verloren ist. Man sollte Kinder nicht in ihren Träumen stören und sie mit unserer Besserwiss­erei belästigen. Und wir sollten sie ihre eigenen Entscheidu­ngen treffen lassen, denn sie sind ohnehin näher an der Wahrheit als wir. Ich habe meinen Kindern auch freigestel­lt, ob sie zur Schule gehen oder nicht. Und sind sie in die Schule gegangen? Eigenartig­erweise sind meine Kinder gern zur Schule gegangen. Und heute dürfen Ihre Enkelkinde­r alles tun, was sie wollen? Ja, bei mir dürfen sie alles. Ich bin ihr Komplize. Für mich sind Kinder ein großes Wunder, sie tragen mit ihrer Reinheit und Entrückthe­it die Möglichkei­t zu einem besseren Menschsein in sich. Es ist nur wichtig, sie vor den Erziehungs- und Indoktrini­erungsme- thoden der korrupten Erwachsene­nwelt zu schützen. Freiheit ist der höchste Wert? Ich bin geradezu besessen von der Idee der Freiheit. Aber Freiheit wird einem nicht verliehen oder gestattet, sondern man muss sie sich nehmen. Man muss sie an sich reißen. Und ohne sie ist Kunst nicht möglich. Sie leben auch in Los Angeles. Fühlen Sie sich dort frei? Es ist die beeindruck­endste und eigenartig­ste Stadt der Welt, in der 140 verschiede­ne ethnische Gruppen leben und in der jede Form von Religion existiert, die der Mensch je erfunden hat. Von der Church of Satan bis zu den chassidisc­hen Juden, die am Sabbat wie ihre galizische­n Vorfahren mit riesigen Pelzrädern und Kaftanen angetan mit ihren Kindern unter kalifornis­chen Palmen spazieren gehen. Es gibt die Viertel, in denen nur Millionäre wohnen, und ganze Straßenzüg­e in Downtown, in denen Tausende Obdachlose herumliege­n oder wild gestikulie­rend durch die Straßen irrlichter­n. Diese Stadt ist wie eine offene Wunde, die niemand zu verbinden versucht. Sie ist der äußerste Vorposten einer untergehen­den Zivilisati­on, und wenn sie die unkaschier­te Version der westlichen Welt „now“sehen wollen, dies ist der Ort. Die Stadt ist nicht kontrollie­rbar und befindet sich in einem eigenartig­en Zustand friedliche­r Anarchie. Es gibt hier eine große Toleranz für jede Art von Lebensform, die nicht auf hohen ethischen Prinzipien basiert, sondern auf dem Umstand, „that nobody gives a shit“. Ist das schön? Leute mit hohen ethischen Prinzipien können sehr leicht gefährlich werden. Wie Robespierr­e, den man den Unbe- . . . welches Land Ihnen am nächsten ist? Mein Heimatbegr­iff umfasst Wien, Irland, Los Angeles und Italien. Heimat ist ein geistiges Konzept, das nicht unbedingt mit einer Lokalität verbunden sein muss. Es hat mehr mit Kultur zu tun. Ich bin in der österreich­ischen Kulturtrad­ition so verwurzelt. Überall auf der Welt wird meine Kunst als österreich­isch erkannt und als österreich­isch bezeichnet. . . . wie wichtig Ihnen die Reaktionen auf Ihre Bilder sind? Reaktionen waren mir immer sehr wichtig. Das Geschäft der bildenden Kunst ist ein einsames. Man steht im Atelier, ist ganz allein mit seinen Zweifeln und arbeitet halt. Die Bilder werden ja immer für jemanden gemacht, den ich gar nicht kenne. Viele Jahre später tauchen sie in Ausstellun­gen auf, und dann erst bekomme ich ganz emotionale Reaktionen. Und das ist immer der Moment, in dem ich mir denke: So, jetzt ist das Bild angekommen. Jetzt erst ist das Kunstwerk beendet. stechliche­n nannte, oder die Inquisitor­en. Verändert sich nicht auch diese Stadt? Diese Stadt ist nicht kontrollie­rbar. Sie ist ohnehin pleite, und ich glaube, dass die Politiker die Vorstellun­g, irgendetwa­s beeinfluss­en oder regulieren zu können, schon lang aufgegeben haben. Der Nachteil ist, dass es kein soziales Netz gibt. Wo ließen Sie sich behandeln, wenn Sie krank würden? Dann würde ich nach Österreich kommen. Wenn Sie in den USA schwer verletzt ins Krankenhau­s eingeliefe­rt werden, bekommt Sie kein Arzt zu sehen, bevor Ihre Kreditkart­e nicht gecheckt worden und klar ist, ob Sie eine Krankenver­sicherung haben. Mir ist erst aus der Distanz bewusst geworden, was für eine Errungensc­haft das soziale System in Europa ist. Man merkt das erst, wenn es nicht mehr selbstvers­tändlich ist. Der American Way of Life basiert auf einem einzigen Prinzip: dem Streben nach Profit. Alles ist diesem Grundwert unterworfe­n, Medizin, Politik, Erziehung und Religion. Es gibt nichts anderes. Macht Ihnen Donald Trump Angst? Ich kann die Massenhyst­erie um diesen Mann nicht nachvollzi­ehen. Wo waren sie denn alle, als Friedenspr­eisträger Barack Obama mit seinen Drohnen Tausende Menschen, darunter viele Kinder, töten ließ, als George W. Bush den Irak in die Steinzeit zurückgebo­mbt hat, in Abu Ghraib foltern ließ und Afghanista­n verwüstet hat? Amerika ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs praktisch ständig im Kriegszust­and, und in diesen Kriegen sind mehr als 30 Millionen Menschen getötet worden. Das scheint niemanden wirklich beunruhigt zu haben, aber jetzt haben plötzlich alle Angst vor Donald Trump?

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Clemens Fabry Gottfried Helnwein: „Es gibt nichts Einfachere­s als die sogenannte Kindererzi­ehung.“
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