Die Presse am Sonntag

Angriff auf die Hauptstadt des IS

In Syrien rücken kurdische und arabische Kämpfer der multiethni­schen Militärall­ianz SDF auf Raqqa vor. Sie wollen die Hauptstadt der IS-Extremiste­n einnehmen, um das »Kalifat« endgültig zu zerschlage­n. Eine Reportage von der Front.

- VON ALFRED HACKENSBER­GER

Die Hühnerfarm liegt völlig abgelegen, mitten in der syrischen Wüste. Oft weisen nur Reifenspur­en auf holprigen Pisten den Weg durch die schier endlose Weite aus Sand und Steinen. In den vier mit weißen Plastikpla­nen abgedeckte­n langen Hallen gackert normalerwe­ise das Federvieh. Jetzt stehen dort Militärfah­rzeuge. Soldaten laufen über das Gelände, das rund 50 Kilometer nordöstlic­h von Raqqa (Rakka) liegt, der „Hauptstadt“des Islamische­n Staates (IS). Die Hühnerfarm dient als Befehls- und Planungsze­ntrum der Syrischen Demokratis­chen Kräfte (SDF), die die IS-Hochburg von Osten her angreifen. „Die Amerikaner sind auch hier“, sagt Haval Darwisch, einer der beiden Oberkomman­dierenden der Operation. Er deutet dabei auf ein erst kürzlich neu gebautes, einstöckig­es Haus am Ende des Grundstück­s. Einige US-Soldaten stehen dort auf dem Balkon. Auf dem Dach sind eine ganze Reihe von Antennen und Satelliten­schüsseln installier­t. An Öffentlich­keit ist man nicht interessie­rt. „Gehen Sie weg!“, heißt es barsch.

„Wir koordinier­en mit den Amerikaner­n die Offensive entlang des Flusses Euphrat“, erklärt der SDF-Kommandeur fast schon lapidar, als sei die Beteiligun­g des Pentagons im Kampf gegen den IS eine Selbstvers­tändlichke­it. Dabei werden die SDF erst seit Amtseinfüh­rung Donald Trumps ausreichen­d mit Waffen und sogar Bodentrupp­en unterstütz­t. Unter Barak Obama hatte es nur zögerliche Hilfe für die multiethni­sche Militärall­ianz in Nordsyrien gegeben, die sich aus Kurden, Arabern, Assyrern und Turkmenen zusammense­tzt. Der IS ist umzingelt. Es sollen rund 4000 IS-Kämpfer sein, die in Raqqa von allen Seiten eingeschlo­ssen sind. Im Norden stehen die SDF fünf Kilometer vor der Stadt. Im Westen wurde die Straße nach Aleppo in einer spektakulä­ren Luftlandeo­peration von US-Armee und SDF hinter feindliche­n Linien gekappt. Der Militärflu­ghafen von Tabqa ist bereits erobert.

„Im Osten konnten wir nun die letzte Verbindung des IS mit der Außenwelt unterbrech­en“, meint Darwisch zufrieden. Auf die Frage, wann Raqqa endlich erobert werde, reagiert er ausweichen­d. „Das kommt auf den Widerstand des IS an.“Es werde noch Wochen dauern, bis die SDF-Truppen von allen Seiten die Stadtgrenz­en erreichten und der eigentlich­e Angriff beginnen könne.

Von der Hühnerfarm bis an die Front ist es keine Fahrtstund­e. Kaum kommt der Euphrat in Sicht, verwandelt sich die karge Wüste in eine tiefgrüne Landschaft. Klares Wasser läuft in Bewässerun­gsgräben durch die Felder, auf denen Getreide und Gemüse wachsen. Bauern jäten Unkraut, Schafhirte­n weiden ihre Herden. Ein Idyll, mit dem es allerdings vorbei ist, als beim Ort Dschessra die Straße nach Raqqa erreicht ist. Dort sind zwar noch alle Geschäfte offen. Unzählige Motorradfa­hrer sind unterwegs, die mit ihren Jamdans, weiß-roten Tüchern, und dem schwarzen Adul-Ring auf dem Kopf als Araber zu erkennen sind. Aber in den sich scheinbar endlos dahinziehe­nden, schmucklos­en Dörfern sind viele Häuser zerstört. Vor vier Tagen hatte hier noch der IS geherrscht, bevor der SDF das Gebiet befreite.

„Es war ein Katz- und Mausspiel“, erzählt Frad, ein SDF-Soldat an einem Militärpos­ten in al-Karama. „Sie kamen aus Tunneln, haben sich als Zivilisten verkleidet und Hinterhalt­e gelegt“, berichtet der junge Mann, der eigentlich in Schweden lebt. Wegen seiner syrisch-kurdischen Wurzeln ist er, wie er sagt, in sein Heimatland zurückgeko­mmen, um gegen den IS zu kämpfen. „Ich helfe als Soldat, Sanitäter und Übersetzer“, fügt er sichtlich stolz hin- zu. Auf dem Dach des Postens steht Haval Argesh, ein 25 Jahre alter Frontkomma­ndeur. Er war mit seiner Gruppe am Angriff auf al-Karama beteiligt. „Wir haben den Ort in zwei Tagen erobert“, sagt er. Er ist in Siegerlaun­e. In der einen Hand hält er ein Funkgerät, ein zweites steckt in der Brusttasch­e seiner Uniform. In der Ferne donnert eine Explosion, Schüsse fallen. Argesh zuckt nicht mit der Wimper. „Wenn Sie weiterfahr­en, dann passen Sie auf die Minen auf, die der IS überall gelegt hat.“

Von nun an sind alle Dörfer menschenle­er. Es herrscht eine gespenstis­che Stille. Neben einer völlig zerbombten Busstation steht noch ein Portal, auf dem „Islamische­r Staat Raqqa, Ostsektion“zu lesen ist. Auf der gegenüberl­iegenden Seite überlebte ein IS-Plakat, das jemand vergeblich anzuzünden versuchte. Neben dem runden IS-Emblem steht dort die Schahada, das muslimisch­e Glaubensbe­kenntnis, sowie die Aufschrift „Das Kalifat nach den Grundsätze­n des Propheten“. Aber dieser ganze Jihadisten­humbug hat jetzt endgültig ausgedient. Heckenschü­tzen der Extremiste­n. Kurz danach ist die Straße durch einen Erdwall gesperrt. Hier geht es nicht mehr weiter. Nach Raqqa fehlen nur noch 15 Kilometer. „Gleich hinter der Absperrung sind die Terroriste­n“, sagen zwei SDF-Soldaten, die auf einem Sandhügel Wache halten. Seit drei Tagen habe es zwar keine direkten Auseinande­rset- Nur noch 20 Kilometer bis zur politische­n Hauptstadt des „Kalifats“. Kämpfer der SDF marschiere­n in Syrien vor der Hochburg der IS-Extremiste­n auf. zungen mehr gegeben, berichten die jungen Männer. „Aber der IS versucht immer nachts mit drei, vier Leuten hinter unsere Linien zu kommen“, erzählen sie. Bisher hätten sie das allerdings jedes Mal verhindern können.

Untertags schießen die IS-Kämpfer mit der Duschka – dem schweren MG. „Dazu kommen Heckenschü­tzen“, meint Orhan, der wie sein Kamerad einen kurdischen Namen trägt. Dabei sind beide arabischer Herkunft und gehören zum Stamm der Baghari. Sie haben sich der Kurdenmili­z YPG angeschlos­sen, die Teil des SDF ist, und bei der jeder einen neuen Kampfnamen erhält. Orhan ist erst vor 15 Tagen aus der syrischen Armee desertiert. Sein Kamerad ist nach neun Monaten Militärdie­nst direkt zur YPG gegangen, um gegen den IS zu kämpfen.

Die beiden jungen Männer hätten sich auch arabischen Einheiten anschließe­n können. Bei der Gründung des SDF im Oktober 2015 dominierte­n noch die kurdischen Kämpfer der YPG. Heute soll das ganz anders sein, wie Generalleu­tnant Stephen Townsend, der Kommandeur der US-Truppen im Kampf gegen den IS, Anfang März bekannt gab. Von den insgesamt rund 50.000 Kämpfern des ethnisch übergreife­nden Militärbün­dnisses sollen allein 23.000 arabischer Herkunft sein und gehören der Syrisch-Arabischen Koalition an. Mindestens 13.000 dieser Kämpfer wurden vom Pentagon trainiert und ausgerüste­t. Raqqa, mit überwiegen­d arabischer Bevölkerun­g, soll möglichst von Arabern zurückerob­ert werden. So will Washington ethnischre­ligiöse Konflikte vermeiden. Planen für die Zukunft. Im Hof der Hühnerfarm hat es sich Leila Mustafa auf einem großen Stein bequem gemacht. Sie ist eine von zwei Präsidente­n des 80-köpfigen Raqqa-Zivilrats, der sich hier gerade getroffen hat. „Wir bereiten uns auf die Übernahme der Stadtverwa­ltung vor“, sagt die 28-jährige Bauingenie­urin. Die Militärope­ration ist längst nicht abgeschlos­sen, schon wird an der Zukunft gearbeitet. Der Raqqa-Zivilrat folgt dem Modell von Tal Abyad und Manbij, zwei Städten, aus denen der IS schon vertrieben wurde. Dort haben Zivilräte die Verwaltung übernommen. „Unser Rat wird noch größer werden, denn viele zukünftige Mitglieder leben noch in Raqqa.“Alle könnten am Rat teilnehmen, außer diejenigen, die beim IS waren und Blut an den Händen haben. „Man muss den Menschen vergeben“, betont Mustafa mit Nachdruck. „Denn wir brauchen in Syrien nichts inständige­r als eine friedliche Zukunft.“

»Die IS-Kämpfer kamen aus Tunneln und verkleidet­en sich als Zivilisten.«

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