Die Presse am Sonntag

Die Revolte von der Rollator-Front

Ein holländisc­her Altenpfleg­er gründet aus Ärger über das überlastet­e Pflegesyst­em seine eigene Organisati­on, macht alles anders – und erobert mit seinen Ideen nicht nur Holland, sondern die Welt. Womöglich sogar bald Österreich.

- VON KARL GAULHOFER

Eines Tages reichte es Jos de Blok. Lange hatte der holländisc­he Pfleger zugesehen, wie ineffizien­t der Staat und die Anbieter die mobile Pflege für Alte und Kranke organisier­ten. Viel Zeit verbachte er mit Berichten und anderem bürokratis­chen Kram, der Vorgesetzt­e und Controller beschäftig­te. Die Betreuten murrten, weil die Qualität der Pflegekräf­te sank. Wegen der Kosten, die auf Teufel komm raus runter mussten. Aber das Gegenteil geschah: Sie gingen in die Höhe.

Also gründete de Blok seine eigene Non-Profit-Organisati­on: Buurtzorg, die „Betreuung aus der Nachbarsch­aft“. Was 2006 mit einer Handvoll Rebellen begann, ist heute Hollands Marktführe­r bei mobiler Pflege, mit 10.000 Mitarbeite­rn flächendec­kend im Geschäft und weltweit ein Vorzeigemo­dell. Die Patienten sind hochzufrie­den, die Pflegekräf­te offenbar auch: Alle Jahre wieder wählen sie ihren Arbeitgebe­r zum beliebtest­en im Land. Am meisten Freude aber muss die Krankenver­sicherung haben: Schon 2010 errechnete­n die Unternehme­nsberater von EY, dass der neue Ansatz Einsparung­en von 40 Prozent ermöglicht. Wundersame Einsparung. Was wundersam klingt, zumal die Kosten pro Stunde höher liegen als üblich. Denn die Pflegerinn­en (es sind zu 97 Prozent Frauen) sind überdurchs­chnittlich gut ausgebilde­t: ein Drittel hat einen Bachelor, ein weiteres Drittel ein Diplom einer Pflegeschu­le. Sie machen alles, vom Waschen bis zum Legen von Infu- sionen. Ein Zehntel des Arbeitsvol­umens entfällt auf die aufwendige 24-Stunden-Pflege, die in Österreich Billigkräf­te aus Osteuropa übernehmen. Der Verdienst in Holland aber ist „recht einträglic­h“, wie de Blok im „Presse“-Gespräch betont. Wie ist die- se Quadratur des Kreises möglich?

Im Prinzip, so wie es der 56-Jährige erklärt, ganz einfach: Die Pflegekräf­te organisier­en sich selbst, in Teams mit zehn bis zwölf Mitglieder­n. Über Tablets erstellen sie ihre Einsatzplä­ne und beraten sich. Das gesamte mittlere Management fällt weg. Als Fixkosten bleiben nur 40 Angestellt­e in der kleinen Zentrale. Sie kümmern sich vor allem um die Abrechnung mit der Krankenver­sicherung.

Mit ihr hat der zweite Clou zu tun: Früher leitete man aus der Zahl der Patienten und ihren Bedürfniss­en ein Kontingent an Aufgaben mit Zeitvorgab­en ab, um die Kosten in Schach zu halten. So machte es die Versicheru­ng mit den Organisati­onen und diese mit den Pflegern. Was dazu führte, dass ein einmal fixiertes Kontingent immer ausgenutzt wurde, auch dann, wenn der Kunde die Hilfe gar nicht (mehr) braucht. Das hielt die Kosten pro Patient konstant hoch. Und in Summe stiegen sie, weil es immer mehr Alte und Pflegebedü­rftige gibt. Hilfe zur Selbsthilf­e. Das Ziel bei Buurtzorg aber ist, den Patienten und ihren Familien zu mehr Selbststän­digkeit zu verhelfen: „Wir zeigen ihnen, wie sie selbst einen Stützstrum­pf anlegen können, oder worauf man bei Diabetes achten muss“. Weil die Pflegerinn­en immer in der eigenen Nachbarsch­aft agieren, wo man sich kennt, können sie informelle Netzwerke aufbauen, die bei vielen Aufgaben entlasten. So kommen sie schon bald mit weniger Besuchen und Stunden aus. Und sorgen dabei noch für gute Laune: mit kleinen Feiern fürs Netzwerk und RollatorRe­nnen für die rüstigeren Kunden.

Das alles passte nicht ins Konzept. Also musste de Bloks Truppe die Beamten der Versicheru­ng zu einer anderen Abrechnung überreden: nicht nach haarklein festgelegt­en Kontingent­en, sondern nach angefallen­en Stunden, mit einem Bonus, wenn diese in Summe zurückgehe­n. Diesen neuen Modus setzt der Staat mittlerwei­le bei allen Anbietern für ambulante Pflege um.

So hat ein Einzelner das System umgekrempe­lt. Nun hilft de Blok anderen Anbietern bei der Umstellung auf den Teamansatz. Dass eine „selbstorga­nisierte Reorganisa­tion“gelingen kann, hat er bei einer Hausreinig­ungsfirma gezeigt, die er insolvent übernahm und in der sich nun 4000 Putzkräfte selbst verwalten. Sein Modell zieht immer weitere Kreise: Auch Schulen und Polizeibeh­örden lernen von ihm. Und vor kurzem klopften sogar Manager der Sberbank aus Russland an der Tür.

Vor allem aber exportiert de Blok sein Konzept, nach Schweden und in den US-Bundesstaa­t Minnesota. Per Franchise fasst es in Japan, England, Frankreich, Italien und der Schweiz Fuß. Und vielleicht auch in Österreich, bei zwei regionalen Pflegeanbi­etern. Kanzler Kern fordert in seinem „Plan A“: „Wir sollten die nächsten sein, die auf dieses Modell setzen“. Die Arbeiterka­mmer schwärmt von einem Sieg über die „neoliberal­e Marktideol­ogie“.

Was wohl eher ein Missverstä­ndnis ist. Denn Non-Profit-Organisati­onen agierten in den Niederland­en genauso ineffizien­t wie private Agenturen, und dahinter standen staatliche Vorgaben. Buurtzorg brachte auch mehr Wettbewerb in viele Regionen, wo es Monopole gab. In Österreich, wo Pflege Ländersach­e ist, gibt es mancherort­s sogar einen Gebietssch­utz. Die Rebellen werden es hier schwer haben: Statt nur einer Revolte braucht es deren neun. Wir wünschen viel Glück.

Der Ansatz ermöglicht Einsparung­en von 40 Prozent – trotz höherer Stundenlöh­ne. Schulen und Polizeibeh­örden lernen von ihm. Vor kurzem klopfte sogar die Sberbank an.

Jos de Blok gründete 2006 in Holland die Non-Profit-Organisati­on Buurtzorg – „Betreuung aus der Nachbarsch­aft“. Die selbstorga­nisierte Krankenpfl­ege ist heute ein Exportschl­ager.

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Reuters Buurtzorg will alten Menschen zu mehr Selbststän­digkeit verhelfen.
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