Die Presse am Sonntag

IN ZAHLEN

Die Schlepper von Flüchtling­en verdienen wie nie zuvor. Vor allem in Libyen, wo die Menschenhä­ndler immer brutaler werden; aber auch die Westbalkan­route ist noch lange nicht dicht.

- VON GERHARD BITZAN

An der Küste vor der westlibysc­hen Stadt Sabrata wurde vor Kurzem ein grausiger Fund gemacht: 22 Leichen von Flüchtling­en lagen im Sand. An die Bilder von ertrunkene­n Migranten hatten sich die Sicherheit­skräfte schon gewöhnt, aber diese Menschen waren erschossen worden. Bald stellte sich heraus, dass die Flüchtling­e ein Schiff in Richtung Italien besteigen hätten sollen, aufgrund des schlechten Wetters und des miesen Zustands des Bootes weigerten sie sich aber. Die bewaffnete­n Schlepper duldeten keinen Widerspruc­h und schossen sofort – wenig später war das Boot mit willigeren Flüchtling­en aufgefüllt.

Für die Schlepper-Experten der europäisch­en Polizeibeh­örde Europol ist dieser Vorfall ein neuer Beweis dafür, dass sich trotz vieler Maßnahmen der Menschensc­hmuggel nicht nur weiter ausbreitet, sondern auch der Konkurrenz­kampf noch brutaler wird. Immerhin geht es um ein Milliarden­geschäft. Laut Europol-Chef Robert Wainwright ist der Menschensc­hmuggel das am schnellste­n wachsende Geschäftsf­eld von kriminelle­n Organisati­onen. 50.000 Schlepper. Vor einem Jahr hat Europol in Den Haag das European Migrant Smuggling Centre (EMSC) geschaffen, in dem die Jagd auf Schlepper europaweit konzentrie­rt wird, wo die Ermittlung­en zusammenfl­ießen. Die kürzlich vorgestell­te Jahresbila­nz des EMSC ist deprimiere­nd: Demnach haben zwischen Jänner 2016 und Jänner 2017 die Mitarbeite­r der Behörde 17.500 neue Menschensc­hmuggler identifizi­ert; insgesamt kennen die Behörden bereits mehr als 50.000 Schlepper und Helfer. Was dem EMSC besonders Sorge bereitet, sind Social Media: 1150 Accounts wurden identifizi­ert, über die Migranten rekrutiert werden – im Jahr 2015 waren es noch 148 gewesen.

Obwohl sich die Zahlen auf alle Hauptschmu­ggelrouten beziehen, also auch auf die Route von der Türkei nach Europa, ist doch derzeit die Schlepperr­oute via Libyen das Hauptprobl­em. Seit Anfang des Jahres steht in der EU auch ganz offiziell der Kampf gegen die Menschensc­hmuggler im Vordergrun­d. Beim Gipfel in Malta wurden ein Maßnahmenp­rogramm und viel Geld und Unterstütz­ung für die libysche Regierung in Aussicht gestellt.

Doch diese hat nur ein relativ kleines Gebiet um Tripolis unter Kontrolle und sonst wenig Einfluss im Land. Zwar werden dort immer mehr Mannschaft­en der Küstenwach­e von der EU trainiert, wie verlässlic­h sie sind, ist offen. So gibt es Berichte, dass manche Mitarbeite­r der libyschen Anti-Schleuser-Einheiten einen guten Draht zu Schleusern haben sollen.

In Österreich ist Gerald Tatzgern als Leiter der Abteilung Schlepperk­riminalitä­t im Bundeskrim­inalamt sozusagen der oberste Schlepper-Jäger, und er warnt: „Wir hatten heuer schon mehr 500 Tote auf der Meeresrout­e in Richtung Italien. Das ist dreimal soviel als im Vergleichs­zeitraum des letzten Jahres.“Dem Wunsch der europäisch­en Politiker, das „Geschäftsm­odell Schleppere­i“zu zerschlage­n, steht Tatzgern mit Skepsis gegenüber. „Mit Grenzschut­zmaßnahmen allein ist dies nicht möglich“, da gehörten auch flankieren­de Maßnahmen in den Herkunftsl­ändern der Migranten und Abkommen mit diesen dazu.

Aber, so Tatzgern, man könne ihre Arbeit stören und sie in ihrer Bewegung einschränk­en. Dazu müsse man viel über ihre Strukturen und Arbeitswei­sen wissen. Zu diesem Zweck werden in allen 28 Europol-Ländern – besonders wichtig ist da Italien als erstes Ankunftsla­nd – Informatio­nen gesammelt und ausgewerte­t. Militärisc­h geführte Banden. In Libyen ist die Küste mittlerwei­le gut aufgeteilt. Da gibt es die „Großuntern­ehmer“, die Mastermind­s, genauso wie kleinere kriminelle Banden oder Milizen. Jeder will am großen Geschäft mitnaschen. Bei Sirte hat sich der IS breitgemac­ht und scheint hier viel Geld auch mit den Schleppung­en zu verdienen. Zunehmend sei zu bemerken, dass Schmuggler­banden geradezu militärisc­h geführt werden, so die Europol. Was offenbar darauf hinweist, dass sich Ex-Militärs hier auf einem neuen Feld betätigen.

Viele dieser Informatio­nen stammen von Flüchtling­en selbst, sie werden bei Ankunft in EU-Hotspots von

tausend Flüchtling­e

sollen sich in Libyen aufhalten und auf eine Überfahrt in die EU warten. Andere Schätzunge­n gehen von doppelt so vielen Menschen aus.

Prozent beträgt

im Vergleich zum ersten Quartal des Vorjahres heuer der Anstieg der Zahl der Flüchtling­e, die über die Libyen-Route nach Italien kamen. Absolut sind das 24.280 Menschen. (Stand 31. März, Quelle: IOM) Ermittlern eingehend befragt. Auch ihre Handys werden ausgewerte­t, Nummern, die sie angerufen haben, werden überprüft, oft werden diese dann abgehört. Zunehmend machen Migranten auch Handyfotos während der langen Reise nach Libyen, um etwa beweisen zu können, dass sie da und dort bezahlt haben. Viele sind den Fahrern ausgeliefe­rt und brauchen auch die GPS-Funktion des Telefons, um zu wissen, wo sie gerade sind.

Zu der jüngst von Außenminis­ter Kurz entfachten Diskussion um die Rolle der NGO-Hilfsschif­fe gibt Tatzgern dem Minister inhaltlich recht. „Wenn die Schlepper wissen, dass Hilfsboote vor der Küste kreuzen, verwenden sie noch schlechter­e Boote und geben weniger Kerosin mit, um zu sparen. Und es schürt auch bei den Flüchtling­en Hoffnung.“Ein Argument, das von den NGOs strikt zurückgewi­esen wird.

Wachsende Zahl von Social-Media-Accounts, um »Kunden« anzuwerben. Täglich werden in Österreich 100 bis 150 illegale Migranten aufgegriff­en.

Am Balkan wiederum ist die Ausgangssi­tuation für Flüchtling­e und Schlepper laut Europol etwas anders. Die geschlosse­ne Westbalkan-Route sei nur bedingt geschlosse­n. Laut Tatzgern kommen immer noch zahlreiche Flüchtling­e durch, derzeit würden täglich etwa 100 bis 150 illegale Migranten in Österreich aufgegriff­en. Etwa gleichviel dürften sich unerkannt weiter bis Deutschlan­d durchschla­gen. Das Geschäft für die Schlepperb­anden ist also auch hier weiterhin ein glänzendes.

Die meisten Schleppung­en gehen von türkischem Gebiet aus. Anders als in Libyen sind es dort aber im Wesentlich­en große Familien, die zudem untereinan­der verwandt sind und die das Geschäft in der Hand haben.

Und was ist die Rolle der türkischen Politik, der Polizei? „Das ist wie bei einem Wasserhahn, den man auf- und abdrehen kann.“Wenn man die Polizei abzieht, gebe es wieder mehr Überfahrte­n nach Griechenla­nd. Umgekehrt habe die Polizei vor Kurzem wieder guten Willen gezeigt und etwa 2600 Illegale aufgegriff­en. Viele Aktivitäte­n seien politisch motiviert. Aber im Wesentlich­en laufe die Zusammenar­beit der Europol mit den Türken noch recht gut.

Newspapers in German

Newspapers from Austria