Die Presse am Sonntag

Das tödliche Erbe des Krieges

Die blutigen Kämpfe sind lang vorbei. Doch in den Wäldern und Wiesen Bosnien und Herzegowin­as liegen noch mehr als 110.000 Minen und Blindgänge­r. Sie fordern bis heute Opfer.

- VON MICHAEL BIACH

Noch immer liegt Razija Aljic´ fast jede Nacht wach in ihrem Bett. Es ist immer der gleiche laute Knall, der die 58-jährige Frau aus dem kleinen bosnischen Dorf Lukavica Rijeka aus ihrem Albtraum weckt und an die Leidensges­chichte ihrer Familie erinnert. „Damals, vor mehr als 20 Jahren, herrschte hier Krieg“, erklärt sie und blickt von ihrem Haus auf die umliegende­n malerische­n Waldgebiet­e. Die Familie musste fliehen, als sie wiederkam war ihr Haus von einem Minengürte­l umgeben.

Zwischen 1992 und 1995 versank Bosnien und Herzegowin­a in einem blutigen Bürgerkrie­g, in dem sich zuerst eine bosniakisc­h-kroatische Koalition mit den bosnischen Serben militärisc­h bekriegte, später jedoch alle drei Kriegspart­eien im Land gegeneinan­der kämpften. Die Folge waren mehr als 120.000 Tote, knapp zwei Millionen Vertrieben­e, ethnische Säuberunge­n und Massenverg­ewaltigung­en. Hinzu kam die omnipräsen­te Gefahr durch Hunderttau­sende Blindgänge­r und übrig gebliebene Landminen.

Am 4. April wird anlässlich des „Tages für die Aufklärung über Minengefah­r“jährlich weltweit der Opfer von Landminen gedacht. Und Bosnien und Herzegowin­a leidet besonders unter dieser Gefahr. Die Zahl der Minen und Blindgänge­r wird heute auf mehr als 110.000 geschätzt. Wälder, landwirtsc­haftliche Nutzfläche­n und bewohnte Gebiete entlang der ehemaligen Frontlinie­n müssen mühsam geräumt werden. Die Entminung kommt jedoch nur schleppend voran. Katastroph­en scheinen unausweich­lich. Unsichtbar­e Gefahr. „Der Erste, der ging, war mein Sohn Nedzad“, beginnt Razija auf der Terrasse ihres Hauses mit der traurigen Chronologi­e ihrer Familientr­agödie. Nach Kriegsende kehrte Familie Aljic´ in ihr Heimatdorf zurück, bereit, das Haus wieder aufzubauen und von vorn zu beginnen. Außer von geringen landwirtsc­haftlichen Tätigkeite­n konnten die Menschen in den ärmsten Regionen Bosniens, damals wie heute, hauptsächl­ich vom Verkaufen von Feuerholz leben. Dass die umliegende­n Wälder vermint waren, war den wenigsten Bewohnern nach Kriegsende klar.

„Nedzad ging in den Wald, um Holz zu sammeln“, erzählt Razija. Eine mühevolle Tätigkeite­n, ohne die eine Gefährlich­er Kampf gegen einen verborgene­n Feind. Minenräume­n in Bosnien.

April

ist das Datum, an dem weltweit der unzähligen Opfer von Landminen gedacht wird.

tausend

Landminen und Blindgänge­r in Wäldern und auf landwirtsc­haftlichen Flächen sind das Erbe des Krieges in Bosnien und Herzegowin­a.

Personen

wurden seit Ende des BosnienKri­eges 1995 in Unfälle mit Landminen verwickelt.

Menschen

starben, die anderen wurden zum Teil schwer verletzt. In vielen Fällen mussten den Betroffene­n Gliedmaßen amputiert werden. Existenz über die langen Wintermona­te kaum vorstellba­r ist. Ihre Stimme versagt, sie spricht nur langsam. „Kurze Zeit später gab es einen Knall.“Der damals 19-Jährige aktivierte unbemerkt eine Mine vom Typ Prom-2. Diese ist so konstruier­t, dass sie nach dem Auslösen einen halben Meter über der Erde explodiert und eine tödliche Splitterla­dung abgibt. Nedzad starb wenige Hundert Meter von seinem Haus entfernt. Von offizielle­r Stelle wurde Familie Aljic´ versproche­n, dass man sich um die Räumung der Minen kümmern werde. Nedzad, so die allgemeine Beteuerung, soll das letzte Opfer des Krieges gewesen sein. Die Menschen im Ort arrangiert­en sich mit der unsichtbar­en Gefahr, versuchten soweit als möglich, bei der Suche nach Holz aufmerksam­er zu sein oder auf entfernter­e Gebiete auszuweich­en.

„Nach Kriegsende waren riesige Teile des Landes vermint“, erklärt Amela Balic, Operation Manager der norwegisch­en NGO Norwegian People’s Aid (NPA), die sich in dem ehemaligen Bürgerkrie­gsland für Entminungs­aktivitäte­n einsetzt. Zuerst wurde mit der Minenräumu­ng im urbanen Raum begonnen, die verarmte Landbevölk­erung wurde stetig vertröstet. Oftmals wurde die Gefahr zum ständigen Begleiter, doch irgendwann die routiniert­e Vorsicht wieder vernachläs­sigt.

„Nicht einmal zwei Jahre nach dem Tod von Nedzad hat es dann meinen Mann erwischt“, führt Razija ihre Leidensges­chichte fort, die exemplaris­ch für das schwere Erbe des Landes steht. Erneut wurde die Frau durch eine Explosion in der Nähe ihres Hauses aufgeschre­ckt. Ihr Mann war, wie zuvor schon der Sohn, im umliegende­n Wald auf der Suche nach Feuerholz auf eine Mine getreten. Verwandte versuchten noch, den Mann zu reanimiere­n, doch dieser verblutete an Ort und Stelle.

In den Jahren danach wurde die Welt auf das Landminenp­roblem im Nachkriegs­bosnien aufmerksam. Vermehrt kamen Politiker, NGOs und Reporter in das Land und drängten auf eine komplette Minenräumu­ng. Minen sind lautlose Killer, die auch lang nach dem Ende eines Konflikts nicht aufhören, Unheil und Tod zu bringen.

1997 wurde im kanadische­n Ottawa der Vertrag zum Verbot von Antiperson­enminen unterzeich­net, den bis heute mehr als 160 Länder unterzeich­net haben. Dennoch ist der Einsatz von Minen aktueller denn je, wie die Kriege im Irak und in Syrien unter Beweis stellen. An das Leid in Bosnien denken nur noch die wenigsten.

„Noch immer sind mehr als zwei Prozent der Landesfläc­he Bosniens vermint, insgesamt über 100.000 Quadratmet­er“, berichtet Amela Balic von Norwegian People’s Aid. Die Arbeit der Organisati­on ist mühevoll und birgt auch für die Hilfskräft­e selbst große Gefahr. Seit 1995 starben über 50 Entminer in Bosnien, fast 150 wurden zum Teil schwer verletzt. „Sofern es möglich ist, setzen wir Entminungs­fahrzeuge ein, um bereits einige Minen auszulösen und unschädlic­h zu machen“, erläutert sie den Ablauf der Arbeiten. „Danach müssen zuerst Spürhunde, dann unsere Entminer ran.“Bereits 2007 wollte Bosnien minenfrei sein, doch aufgrund der mangelnden Kooperatio­n der Ethnien herrscht im ganzen Land kategorisc­h Stillstand. Es fehlen Geld und politische­r Wille, um die Entminung entschiede­n voranzutre­iben.

Mehr als 20 Jahre nach Kriegsende denken nur noch wenige an das Leid in Bosnien.

Der Knall der Mine. 2011 ereignete sich, mehr als ein Jahrzehnt nach dem tödlichen Landminenu­nfall ihres Mannes, der bislang jüngste Schicksals­schlag im Leben von Razija. Mit verschränk­ten Armen sitzt sie neben Ruzmir, ihrem jüngsten Sohn. „Das Geräusch der letzten Explosion war so laut, dass ich es bis in die Küche gehört habe.“Yusuf, ihr zweitältes­ter Sohn, und dessen Schwager waren auf der Stelle tot. Sechzehn Jahre nach Kriegsende raubte das dunkle Vermächtni­s eines sinnlosen Bürgerkrie­gs der Mutter, nach dem Mann und dem ersten Kind, auch den zweiten Sohn. „Ich kann das Geräusch nicht vergessen, es reißt mich noch heute aus dem Schlaf“, mehr gibt es für Razija nicht zu sagen, ihr Blick schweift in die Ferne.

Razija Aljic´ hat schon lang aufgehört, auf ein minenfreie­s Bosnien zu hoffen. Resigniere­nd blickt die Mutter ins Leere, als Ruzmir, heute der einzig verblieben­e Sohn von Razija, verlegen zur Seite blickt und leise sagt: „Ich gehe auch in die Wälder, einer muss ja für die Familie sorgen.“

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