Das tödliche Erbe des Krieges
Die blutigen Kämpfe sind lang vorbei. Doch in den Wäldern und Wiesen Bosnien und Herzegowinas liegen noch mehr als 110.000 Minen und Blindgänger. Sie fordern bis heute Opfer.
Noch immer liegt Razija Aljic´ fast jede Nacht wach in ihrem Bett. Es ist immer der gleiche laute Knall, der die 58-jährige Frau aus dem kleinen bosnischen Dorf Lukavica Rijeka aus ihrem Albtraum weckt und an die Leidensgeschichte ihrer Familie erinnert. „Damals, vor mehr als 20 Jahren, herrschte hier Krieg“, erklärt sie und blickt von ihrem Haus auf die umliegenden malerischen Waldgebiete. Die Familie musste fliehen, als sie wiederkam war ihr Haus von einem Minengürtel umgeben.
Zwischen 1992 und 1995 versank Bosnien und Herzegowina in einem blutigen Bürgerkrieg, in dem sich zuerst eine bosniakisch-kroatische Koalition mit den bosnischen Serben militärisch bekriegte, später jedoch alle drei Kriegsparteien im Land gegeneinander kämpften. Die Folge waren mehr als 120.000 Tote, knapp zwei Millionen Vertriebene, ethnische Säuberungen und Massenvergewaltigungen. Hinzu kam die omnipräsente Gefahr durch Hunderttausende Blindgänger und übrig gebliebene Landminen.
Am 4. April wird anlässlich des „Tages für die Aufklärung über Minengefahr“jährlich weltweit der Opfer von Landminen gedacht. Und Bosnien und Herzegowina leidet besonders unter dieser Gefahr. Die Zahl der Minen und Blindgänger wird heute auf mehr als 110.000 geschätzt. Wälder, landwirtschaftliche Nutzflächen und bewohnte Gebiete entlang der ehemaligen Frontlinien müssen mühsam geräumt werden. Die Entminung kommt jedoch nur schleppend voran. Katastrophen scheinen unausweichlich. Unsichtbare Gefahr. „Der Erste, der ging, war mein Sohn Nedzad“, beginnt Razija auf der Terrasse ihres Hauses mit der traurigen Chronologie ihrer Familientragödie. Nach Kriegsende kehrte Familie Aljic´ in ihr Heimatdorf zurück, bereit, das Haus wieder aufzubauen und von vorn zu beginnen. Außer von geringen landwirtschaftlichen Tätigkeiten konnten die Menschen in den ärmsten Regionen Bosniens, damals wie heute, hauptsächlich vom Verkaufen von Feuerholz leben. Dass die umliegenden Wälder vermint waren, war den wenigsten Bewohnern nach Kriegsende klar.
„Nedzad ging in den Wald, um Holz zu sammeln“, erzählt Razija. Eine mühevolle Tätigkeiten, ohne die eine Gefährlicher Kampf gegen einen verborgenen Feind. Minenräumen in Bosnien.
April
ist das Datum, an dem weltweit der unzähligen Opfer von Landminen gedacht wird.
tausend
Landminen und Blindgänger in Wäldern und auf landwirtschaftlichen Flächen sind das Erbe des Krieges in Bosnien und Herzegowina.
Personen
wurden seit Ende des BosnienKrieges 1995 in Unfälle mit Landminen verwickelt.
Menschen
starben, die anderen wurden zum Teil schwer verletzt. In vielen Fällen mussten den Betroffenen Gliedmaßen amputiert werden. Existenz über die langen Wintermonate kaum vorstellbar ist. Ihre Stimme versagt, sie spricht nur langsam. „Kurze Zeit später gab es einen Knall.“Der damals 19-Jährige aktivierte unbemerkt eine Mine vom Typ Prom-2. Diese ist so konstruiert, dass sie nach dem Auslösen einen halben Meter über der Erde explodiert und eine tödliche Splitterladung abgibt. Nedzad starb wenige Hundert Meter von seinem Haus entfernt. Von offizieller Stelle wurde Familie Aljic´ versprochen, dass man sich um die Räumung der Minen kümmern werde. Nedzad, so die allgemeine Beteuerung, soll das letzte Opfer des Krieges gewesen sein. Die Menschen im Ort arrangierten sich mit der unsichtbaren Gefahr, versuchten soweit als möglich, bei der Suche nach Holz aufmerksamer zu sein oder auf entferntere Gebiete auszuweichen.
„Nach Kriegsende waren riesige Teile des Landes vermint“, erklärt Amela Balic, Operation Manager der norwegischen NGO Norwegian People’s Aid (NPA), die sich in dem ehemaligen Bürgerkriegsland für Entminungsaktivitäten einsetzt. Zuerst wurde mit der Minenräumung im urbanen Raum begonnen, die verarmte Landbevölkerung wurde stetig vertröstet. Oftmals wurde die Gefahr zum ständigen Begleiter, doch irgendwann die routinierte Vorsicht wieder vernachlässigt.
„Nicht einmal zwei Jahre nach dem Tod von Nedzad hat es dann meinen Mann erwischt“, führt Razija ihre Leidensgeschichte fort, die exemplarisch für das schwere Erbe des Landes steht. Erneut wurde die Frau durch eine Explosion in der Nähe ihres Hauses aufgeschreckt. Ihr Mann war, wie zuvor schon der Sohn, im umliegenden Wald auf der Suche nach Feuerholz auf eine Mine getreten. Verwandte versuchten noch, den Mann zu reanimieren, doch dieser verblutete an Ort und Stelle.
In den Jahren danach wurde die Welt auf das Landminenproblem im Nachkriegsbosnien aufmerksam. Vermehrt kamen Politiker, NGOs und Reporter in das Land und drängten auf eine komplette Minenräumung. Minen sind lautlose Killer, die auch lang nach dem Ende eines Konflikts nicht aufhören, Unheil und Tod zu bringen.
1997 wurde im kanadischen Ottawa der Vertrag zum Verbot von Antipersonenminen unterzeichnet, den bis heute mehr als 160 Länder unterzeichnet haben. Dennoch ist der Einsatz von Minen aktueller denn je, wie die Kriege im Irak und in Syrien unter Beweis stellen. An das Leid in Bosnien denken nur noch die wenigsten.
„Noch immer sind mehr als zwei Prozent der Landesfläche Bosniens vermint, insgesamt über 100.000 Quadratmeter“, berichtet Amela Balic von Norwegian People’s Aid. Die Arbeit der Organisation ist mühevoll und birgt auch für die Hilfskräfte selbst große Gefahr. Seit 1995 starben über 50 Entminer in Bosnien, fast 150 wurden zum Teil schwer verletzt. „Sofern es möglich ist, setzen wir Entminungsfahrzeuge ein, um bereits einige Minen auszulösen und unschädlich zu machen“, erläutert sie den Ablauf der Arbeiten. „Danach müssen zuerst Spürhunde, dann unsere Entminer ran.“Bereits 2007 wollte Bosnien minenfrei sein, doch aufgrund der mangelnden Kooperation der Ethnien herrscht im ganzen Land kategorisch Stillstand. Es fehlen Geld und politischer Wille, um die Entminung entschieden voranzutreiben.
Mehr als 20 Jahre nach Kriegsende denken nur noch wenige an das Leid in Bosnien.
Der Knall der Mine. 2011 ereignete sich, mehr als ein Jahrzehnt nach dem tödlichen Landminenunfall ihres Mannes, der bislang jüngste Schicksalsschlag im Leben von Razija. Mit verschränkten Armen sitzt sie neben Ruzmir, ihrem jüngsten Sohn. „Das Geräusch der letzten Explosion war so laut, dass ich es bis in die Küche gehört habe.“Yusuf, ihr zweitältester Sohn, und dessen Schwager waren auf der Stelle tot. Sechzehn Jahre nach Kriegsende raubte das dunkle Vermächtnis eines sinnlosen Bürgerkriegs der Mutter, nach dem Mann und dem ersten Kind, auch den zweiten Sohn. „Ich kann das Geräusch nicht vergessen, es reißt mich noch heute aus dem Schlaf“, mehr gibt es für Razija nicht zu sagen, ihr Blick schweift in die Ferne.
Razija Aljic´ hat schon lang aufgehört, auf ein minenfreies Bosnien zu hoffen. Resignierend blickt die Mutter ins Leere, als Ruzmir, heute der einzig verbliebene Sohn von Razija, verlegen zur Seite blickt und leise sagt: „Ich gehe auch in die Wälder, einer muss ja für die Familie sorgen.“