Die Presse am Sonntag

Als die Rockmusik noch alle Register zog

Heute spielt die Orgel nur mehr eine Nebenrolle im Pop, als eines unter vielen Keyboards. Einst war sie das Bindeglied zur Klassik – und damit Hoffnungst­räger für bildungsbü­rgerliche Ambitionen.

- VON THOMAS KRAMAR

Gitarrenba­nds geraten aus der Mode, Mr. Epstein.“Mit diesem Satz wies ein leitender Angestellt­er der Schallplat­tenfirma Decca 1962 einen jungen Manager ab. Die Band, die dieser vertrat, hieß The Beatles, der Rest ist Geschichte. Und die Formel hält sich bis heute: Zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug, das reicht für eine Rockband, der Rest ist Luxus. Eigentlich nutzlos.

Doch da, wie Oscar Wilde sagte, alle Kunst ziemlich nutzlos ist, schlich sich auch in die Rockgeschi­chte die schöne Nutzlosigk­eit ein, verkörpert durch Tasteninst­rumente beziehungs­weise den Mann, der diese spielte: den Keyboarder. Den Mann an Klavier, Orgel, Synthesize­r, Mellotron, Cembalo usw. Roll Over Elise. Dieser war von Beginn an etwas Besonderes. Erstens, weil er eben irgendwie das fünfte Rad am Wagen war: Hatten die Beatles einen Keyboarder? Nein. Na eben. (Als Billy Preston mitspielte, war’s schon fast vorbei mit ihnen.) Und die Rolling Stones? Gut, da gab es den ihnen bis zu seinem Tod treuen Ian Stewart, aber dieser war offiziell kein Bandmitgli­ed . . .

Zweitens, weil der Keyboarder quasi naturgemäß der Verbinder zu einer musikalisc­hen Welt war, von der die Popmusik in ihren unschuldig­en Anfängen ausgegrenz­t war – oder sich selbst ausgrenzte. Gewiss: „Roll over Beethoven“, hatte Chuck Berry gerufen, aber hatte der Pianist sich nicht einst an „Für Elise“versucht? Konnte er nicht Noten lesen? Doch, konnte er. Und weil er das konnte, und weil sein bildungsbü­rgerlicher Onkel so stolz darauf war, dass der Neffe Klavierunt­erricht genossen hatte, baute dieser – zur Überraschu­ng und/oder zum Befremden seiner Bandkolleg­en – Zitate von Bach, Beethoven, Bartok´ und Konsorten in die Stücke ein . . .

Das ist der Mythos von den Anfängen des Klassik-Rock, und wie alle Mythen hat er etwas Wahres. Natürlich, als Matthew Fisher, Organist der Band Procol Harum, die Akkordfolg­e von „A Whiter Shade of Pale“ersann, hatte er den Soul-Hadern „When a Man Loves a Woman“von Percy Sledge in den Oh- ren. Man kann aber auch Johann Sebastian Bachs Air aus der Suite Nummer drei D-Dur daraus hören, wenn man will. Damals, 1967, wollten viele. Vor allem Gymnasiast­en, denen Pop – der damals noch lange nicht auf den Kulturseit­en der Zeitungen daheim war – zu trivial vorkam. Sie konnten ihren Musiklehre­rn stolz erzählen, dass z. B. Keith Emerson, Keyboarder der Nice, Themen von Sibelius („Intermezzo from the Karelia Suite“) und Bach („Brandenbur­ger“) verarbeite­te. Dass ebendieser später mit dem Bombastroc­ktrio Emerson, Lake & Palmer die „Bilder einer Ausstellun­g“Mussorgski­s interpreti­erte. Dass Jon Lord, Organist von Deep Purple, ein „Concerto for Group and Orchestra“schrieb und mit dem Royal Philharmon­ic Orchestra aufnahm. Dass sein Soloalbum nicht von ungefähr „Sarabande“hieß.

Es gibt viele Beispiele für diese Bemühungen, heute muten sie seltsam an. Heute werfen sich eher umgekehrt Operntenör­e ihren Kollegen aus der Rockbranch­e an die Hälse, spielen zweitklass­ige Orchester Kuschelroc­ksongs nach. Die Popmusik wird selbst im Feuilleton als Kunstform akzeptiert, hat ihren eigenen Kanon, dient der „ernsten Musik“als Inspiratio­nsquelle. So ist Klassik-Rock obsolet geworden.

Mit ihm ist auch die Orgel weitgehend aus der Rockmusik gewichen, teils aus ähnlichen Gründen. „Wie der Clown gern Hamlet spielen möchte, so hatte Fats Waller ständig den quälenden Wunsch, dem Publikum seine Liebe zur klassische­n Musik und zur Orgel mitzuteile­n“, schrieb der US-Musikkriti­ker John S. Wilson über den ersten Jazzpianis­ten, der die Orgel für sich entdeckte. Das ist zu gehässig formuliert, aber der feierliche, quasi-sakrale Klang der Orgel trug wohl auch dazu bei, dass Rockbands der Sixties, die genug davon hatten, als Unterhaltu­ngsmusiker abgestempe­lt zu werden, sie so liebten. Dazu kam die spirituell­e Verlockung des Gospel, die man z. B. in der Version der Animals von „House of the Ris-

Heute wird Pop selbst längst als Kunstform akzeptiert, damit ist Klassik-Rock obsolet.

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Getty Bombastisc­h: Keith Emerson (1944–2016) an seinen Keyboards.
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