Als die Rockmusik noch alle Register zog
Heute spielt die Orgel nur mehr eine Nebenrolle im Pop, als eines unter vielen Keyboards. Einst war sie das Bindeglied zur Klassik – und damit Hoffnungsträger für bildungsbürgerliche Ambitionen.
Gitarrenbands geraten aus der Mode, Mr. Epstein.“Mit diesem Satz wies ein leitender Angestellter der Schallplattenfirma Decca 1962 einen jungen Manager ab. Die Band, die dieser vertrat, hieß The Beatles, der Rest ist Geschichte. Und die Formel hält sich bis heute: Zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug, das reicht für eine Rockband, der Rest ist Luxus. Eigentlich nutzlos.
Doch da, wie Oscar Wilde sagte, alle Kunst ziemlich nutzlos ist, schlich sich auch in die Rockgeschichte die schöne Nutzlosigkeit ein, verkörpert durch Tasteninstrumente beziehungsweise den Mann, der diese spielte: den Keyboarder. Den Mann an Klavier, Orgel, Synthesizer, Mellotron, Cembalo usw. Roll Over Elise. Dieser war von Beginn an etwas Besonderes. Erstens, weil er eben irgendwie das fünfte Rad am Wagen war: Hatten die Beatles einen Keyboarder? Nein. Na eben. (Als Billy Preston mitspielte, war’s schon fast vorbei mit ihnen.) Und die Rolling Stones? Gut, da gab es den ihnen bis zu seinem Tod treuen Ian Stewart, aber dieser war offiziell kein Bandmitglied . . .
Zweitens, weil der Keyboarder quasi naturgemäß der Verbinder zu einer musikalischen Welt war, von der die Popmusik in ihren unschuldigen Anfängen ausgegrenzt war – oder sich selbst ausgrenzte. Gewiss: „Roll over Beethoven“, hatte Chuck Berry gerufen, aber hatte der Pianist sich nicht einst an „Für Elise“versucht? Konnte er nicht Noten lesen? Doch, konnte er. Und weil er das konnte, und weil sein bildungsbürgerlicher Onkel so stolz darauf war, dass der Neffe Klavierunterricht genossen hatte, baute dieser – zur Überraschung und/oder zum Befremden seiner Bandkollegen – Zitate von Bach, Beethoven, Bartok´ und Konsorten in die Stücke ein . . .
Das ist der Mythos von den Anfängen des Klassik-Rock, und wie alle Mythen hat er etwas Wahres. Natürlich, als Matthew Fisher, Organist der Band Procol Harum, die Akkordfolge von „A Whiter Shade of Pale“ersann, hatte er den Soul-Hadern „When a Man Loves a Woman“von Percy Sledge in den Oh- ren. Man kann aber auch Johann Sebastian Bachs Air aus der Suite Nummer drei D-Dur daraus hören, wenn man will. Damals, 1967, wollten viele. Vor allem Gymnasiasten, denen Pop – der damals noch lange nicht auf den Kulturseiten der Zeitungen daheim war – zu trivial vorkam. Sie konnten ihren Musiklehrern stolz erzählen, dass z. B. Keith Emerson, Keyboarder der Nice, Themen von Sibelius („Intermezzo from the Karelia Suite“) und Bach („Brandenburger“) verarbeitete. Dass ebendieser später mit dem Bombastrocktrio Emerson, Lake & Palmer die „Bilder einer Ausstellung“Mussorgskis interpretierte. Dass Jon Lord, Organist von Deep Purple, ein „Concerto for Group and Orchestra“schrieb und mit dem Royal Philharmonic Orchestra aufnahm. Dass sein Soloalbum nicht von ungefähr „Sarabande“hieß.
Es gibt viele Beispiele für diese Bemühungen, heute muten sie seltsam an. Heute werfen sich eher umgekehrt Operntenöre ihren Kollegen aus der Rockbranche an die Hälse, spielen zweitklassige Orchester Kuschelrocksongs nach. Die Popmusik wird selbst im Feuilleton als Kunstform akzeptiert, hat ihren eigenen Kanon, dient der „ernsten Musik“als Inspirationsquelle. So ist Klassik-Rock obsolet geworden.
Mit ihm ist auch die Orgel weitgehend aus der Rockmusik gewichen, teils aus ähnlichen Gründen. „Wie der Clown gern Hamlet spielen möchte, so hatte Fats Waller ständig den quälenden Wunsch, dem Publikum seine Liebe zur klassischen Musik und zur Orgel mitzuteilen“, schrieb der US-Musikkritiker John S. Wilson über den ersten Jazzpianisten, der die Orgel für sich entdeckte. Das ist zu gehässig formuliert, aber der feierliche, quasi-sakrale Klang der Orgel trug wohl auch dazu bei, dass Rockbands der Sixties, die genug davon hatten, als Unterhaltungsmusiker abgestempelt zu werden, sie so liebten. Dazu kam die spirituelle Verlockung des Gospel, die man z. B. in der Version der Animals von „House of the Ris-
Heute wird Pop selbst längst als Kunstform akzeptiert, damit ist Klassik-Rock obsolet.