Londoner gegen den Terror: Besonnen, geeint, entschieden
Die Zahl der Opfer nach dem jüngsten Anschlag ist auf fünf gestiegen. Die britische Hauptstadt ist jedoch längst zur Tagesordnung zurückgekehrt.
dem in der Nähe des internationalen Flughafens Arlanda gelegenen Stockholmer Vorort Märsta einen Mann verhaftet. Es handle sich „wahrscheinlich“um den Täter, so die Polizei. Der 39-Jährige kommt aus Usbekistan und soll Sympathien für den sogenannten Islamischen Staat (IS) bekundet haben. Er soll direkt nach der Tat mit der S-Bahn vom Hauptbahnhof T-Centralen, dessen Eingang genau am Eingang des Kaufhauses Ahlens liegt, nach Märsta gefahren sein. „Eine Frau erkannte ihn von den Fahndungsfotos. Außerdem wirkte er nervös und hatte verbrannte Kleider. Ohne den Hinweis hätten wir ihn nie so schnell gefasst“, zitiert „Aftonbladet“einen Informanten. Bei der Festnahme soll der Mann Widerstand geleistet haben. Ob der Mann Komplizen hatte, sei unklar, sagte Polizeipräsident Dan Eliasson. Gegenwärtig werde nichts ausgeschlossen.
Der Verdächtige war der Polizei bekannt. 2015 war er mit vier weiteren Landsmännern in einen Fall verwickelt, es ging um gefälschte Rechnungen für einen Putzdienst. Der schwedische Geheimdienst Säpo wurde eingeschaltet, weil der Verdacht bestand, dass die Einkünfte der Betrügereien an den IS gingen. Der Fall konnte nicht bewiesen werden, der Mann durfte gehen. Die Polizei räumte am Samstag lediglich ein, dass er in Ermittlungen aus dem Vorjahr als Sicherheitsrisiko auftauchte.
„Er wirkte wie ein gewöhnlicher Arbeiter, nicht wie ein religiöser Fanatiker“, sagte eine Usbekin, die dem 39-Jährigen gestattet hatte, ihre Wohnung im Einwanderervorort Hjulsta als Meldeadresse zu nutzen. „Er wollte nur Geld verdienen, arbeitete auf dem Bau, deshalb war er in Schweden. Seine Frau und seine Kinder sind im Ausland. Wir Landsleute helfen einander.“
Die schnelle Reaktion der schwedischen Polizei auf den Anschlag wurde von allen Seiten einhellig gelobt. Einsatzkräfte evakuierten das gesamte Stadtzentrum und mögliche weitere Anschlagsziele innerhalb kürzester Zeit. Schwer bewaffnete Polizisten standen an jeder Ecke. U-Bahnen, Busse und S-Bahnen wurden kurz nach der Tat eingestellt. „Schwedens Sicherheitskräfte sind auf Terroranschläge vorbereitet, wir haben das oft geübt und folgen einem genauen Protokoll“, sagte ein Polizeisprecher.
Die Polizei gab an, dass es keine Informationen über einen bevorstehenden Anschlag gab. Wie spontan der Attentäter gehandelt hat, bleibt unklar. Jedoch stahl er den Lkw der Brauerei Spendrups erst eine knappe halbe Stunde vor der Tat, als der Fahrer mit dem Ausladen von Getränken vor einem Restaurant beschäftigt war.
Kritik kam lediglich vom prominenten Kriminalprofessor Leif Persson. Er kritisierte die Sicherheitsbehörden für mangelnde Prophylaxe. Persson hatte nach Nizza und Berlin erfolglos gefordert, dass der Zugang für nicht autorisierte Fahrzeuge in der Fußgängerzone durch Hindernisse unmöglich gemacht werden sollte. Immerhin bildeten die massiven Steinlöwen auf der Drottninggatan ein gewisses Hindernis für den Lkw – ohne sie wäre es vermutlich zu noch mehr Opfern in der vollen Fußgängerzone gekommen. Und Fredrik Furtenbach, politischer Chefkommentator des öffentlich-rechtlichen Radio Schwedens, geht nun davon aus, dass die Antiterrorgesetze in Schweden verschärft werden. „Wir sind eine offene, demokratische Gesellschaft, und das werden wir auch bleiben.“ „Ich fühle große Trauer und Leere.“ „In dieser schwierigen Stunde trauern die Russen gemeinsam mit dem schwedischen Volk.“ „Die Londoner wissen, wie es sich anfühlt, sinnlosen und feigen Terrorismus zu ertragen.“ „Das Vereinigte Königreich steht fest an Schwedens Seite.“ „Unser Mitgefühl gehört den Familien der Opfer und allen Betroffenen.“ „Der ununterbrochene Kampf gegen den Terrorismus muss eine Priorität der europäischen Solidarität sein.“ Wenige Stunden vor dem Anschlag in Stockholm erinnerte am Freitag eine kurze Meldung die Londoner daran, dass auch ihre Stadt erst vor zwei Wochen Ziel einer Terrorattacke geworden war: Die 31-jährige rumänische Touristin Andreea Cristea erlag den Verletzungen, die sie sich beim Sturz in die Themse zugezogen hatte, als Attentäter Khalid Masood mit mehr als 100 km/h über die Westminister Bridge gerast war. Die Zahl der Opfer des Anschlags beim britischen Parlament am 22. März ist damit auf fünf gestiegen.
Doch London ist längst zum Alltag zurückgekehrt. Am Tatort erinnert nach Abschluss der Ermittlungen nichts mehr an den Anschlag. Die Sicherheitsbarrieren sind zur Erleichterung der Bürger wieder entfernt: Mehr als 25 Millionen Menschen passieren jedes Jahr die U-Bahnstation Westminister im britischen Regierungsviertel. Schon jetzt kann dieses Volumen kaum bewältigt werden, die kleinste Beeinträchtigung sorgt für riesige Verzögerungen.
Während die Medien den Anschlag am 22. März tagelang hochspielten, reagierten Politik und Polizei besonnen und beruhigend. Premierministerin Theresa May fand Worte, die sogar von der Opposition anerkannt wurden, und gelobte: „Niemals werden wir vor dem Terror zurückweichen“.
So unvorbereitet die Sicherheitsbehörden auf die Tat waren, so rasch gewannen sie nicht zuletzt dank der Heldentat des Polizisten Keith Palmer das Vertrauen der Öffentlichkeit zurück: Palmer bezahlte mit seinem Leben dafür, dass er das Eindringen von Masood ins Parlament, und damit wahrscheinlich noch Schlimmeres, verhinderte.
Vor allem aber beruhigte die Briten die Versicherung, dass es sich bei Masood um einen Einzeltäter mit kriminellem Hintergrund gehandelt hatte. 1964 in Dartford in der südenglischen Grafschaft Kent unter dem Namen Adrian Russell Elms geboren, konvertierte er Mitte der 2000er-Jahre zum Islam. Nach den Ermittlungen gehörte er keinem Terrornetzwerk an und hinterließ auch keine Bekennerbotschaft. Seine letzten überlieferten Worte beim Verlassen des Hotels in Brighton, ehe er sich zu seiner Todesfahrt aufmachte, waren: „London ist auch nicht mehr, was es einmal war.“ Geschlossen. Damit hatte er sich freilich geirrt, denn gerade in den Stunden nach dem Anschlag stand die britische Hauptstadt geschlossen beisammen – so wie London es jedes Mal tut, wenn die Stadt angegriffen wird. Am Abend nach dem Terroranschlag nahmen Tausende an einer Gedenkfeier am Trafalgar Square teil, die rasch zu einer Kundgebung für Toleranz und gegen voreilige Schuldzuweisungen wurde.
Dass Masood offenbar ein Krimineller war, der sich als Trittbrettfahrer des Terrorismus versuchte, erspart Großbritannien freilich nicht ein paar unangenehme Fragen: Wie steht es um den „Feind im Inneren“? Sind die Sicherheitsvorkehrungen ausreichend? Sollen die Ermittler Zugriff auf verschlüsselte Daten der sozialen Netzwerke bekommen? Antworten gibt es (vorerst) keine.
»Er wirkte wie ein gewöhnlicher Arbeiter, nicht wie ein religiöser Fanatiker.«