Die Presse am Sonntag

Londoner gegen den Terror: Besonnen, geeint, entschiede­n

Die Zahl der Opfer nach dem jüngsten Anschlag ist auf fünf gestiegen. Die britische Hauptstadt ist jedoch längst zur Tagesordnu­ng zurückgeke­hrt.

- STEFAN LÖFVEN, MINISTERPR­ÄSIDENT VON SCHWEDEN KRONPRINZE­SSIN VICTORIA WLADIMIR PUTIN, PRÄSIDENT VON RUSSLAND SADIQ KHAN, BÜRGERMEIS­TER VON LONDON THERESA MAY, PREMIERMIN­ISTERIN VON GROSSBRITA­NIEN A N T O´ N I O G U T E R R E S , UNO-GENERALSEK­RETÄR F R A

dem in der Nähe des internatio­nalen Flughafens Arlanda gelegenen Stockholme­r Vorort Märsta einen Mann verhaftet. Es handle sich „wahrschein­lich“um den Täter, so die Polizei. Der 39-Jährige kommt aus Usbekistan und soll Sympathien für den sogenannte­n Islamische­n Staat (IS) bekundet haben. Er soll direkt nach der Tat mit der S-Bahn vom Hauptbahnh­of T-Centralen, dessen Eingang genau am Eingang des Kaufhauses Ahlens liegt, nach Märsta gefahren sein. „Eine Frau erkannte ihn von den Fahndungsf­otos. Außerdem wirkte er nervös und hatte verbrannte Kleider. Ohne den Hinweis hätten wir ihn nie so schnell gefasst“, zitiert „Aftonblade­t“einen Informante­n. Bei der Festnahme soll der Mann Widerstand geleistet haben. Ob der Mann Komplizen hatte, sei unklar, sagte Polizeiprä­sident Dan Eliasson. Gegenwärti­g werde nichts ausgeschlo­ssen.

Der Verdächtig­e war der Polizei bekannt. 2015 war er mit vier weiteren Landsmänne­rn in einen Fall verwickelt, es ging um gefälschte Rechnungen für einen Putzdienst. Der schwedisch­e Geheimdien­st Säpo wurde eingeschal­tet, weil der Verdacht bestand, dass die Einkünfte der Betrügerei­en an den IS gingen. Der Fall konnte nicht bewiesen werden, der Mann durfte gehen. Die Polizei räumte am Samstag lediglich ein, dass er in Ermittlung­en aus dem Vorjahr als Sicherheit­srisiko auftauchte.

„Er wirkte wie ein gewöhnlich­er Arbeiter, nicht wie ein religiöser Fanatiker“, sagte eine Usbekin, die dem 39-Jährigen gestattet hatte, ihre Wohnung im Einwandere­rvorort Hjulsta als Meldeadres­se zu nutzen. „Er wollte nur Geld verdienen, arbeitete auf dem Bau, deshalb war er in Schweden. Seine Frau und seine Kinder sind im Ausland. Wir Landsleute helfen einander.“

Die schnelle Reaktion der schwedisch­en Polizei auf den Anschlag wurde von allen Seiten einhellig gelobt. Einsatzkrä­fte evakuierte­n das gesamte Stadtzentr­um und mögliche weitere Anschlagsz­iele innerhalb kürzester Zeit. Schwer bewaffnete Polizisten standen an jeder Ecke. U-Bahnen, Busse und S-Bahnen wurden kurz nach der Tat eingestell­t. „Schwedens Sicherheit­skräfte sind auf Terroransc­hläge vorbereite­t, wir haben das oft geübt und folgen einem genauen Protokoll“, sagte ein Polizeispr­echer.

Die Polizei gab an, dass es keine Informatio­nen über einen bevorstehe­nden Anschlag gab. Wie spontan der Attentäter gehandelt hat, bleibt unklar. Jedoch stahl er den Lkw der Brauerei Spendrups erst eine knappe halbe Stunde vor der Tat, als der Fahrer mit dem Ausladen von Getränken vor einem Restaurant beschäftig­t war.

Kritik kam lediglich vom prominente­n Kriminalpr­ofessor Leif Persson. Er kritisiert­e die Sicherheit­sbehörden für mangelnde Prophylaxe. Persson hatte nach Nizza und Berlin erfolglos gefordert, dass der Zugang für nicht autorisier­te Fahrzeuge in der Fußgängerz­one durch Hinderniss­e unmöglich gemacht werden sollte. Immerhin bildeten die massiven Steinlöwen auf der Drottningg­atan ein gewisses Hindernis für den Lkw – ohne sie wäre es vermutlich zu noch mehr Opfern in der vollen Fußgängerz­one gekommen. Und Fredrik Furtenbach, politische­r Chefkommen­tator des öffentlich-rechtliche­n Radio Schwedens, geht nun davon aus, dass die Antiterror­gesetze in Schweden verschärft werden. „Wir sind eine offene, demokratis­che Gesellscha­ft, und das werden wir auch bleiben.“ „Ich fühle große Trauer und Leere.“ „In dieser schwierige­n Stunde trauern die Russen gemeinsam mit dem schwedisch­en Volk.“ „Die Londoner wissen, wie es sich anfühlt, sinnlosen und feigen Terrorismu­s zu ertragen.“ „Das Vereinigte Königreich steht fest an Schwedens Seite.“ „Unser Mitgefühl gehört den Familien der Opfer und allen Betroffene­n.“ „Der ununterbro­chene Kampf gegen den Terrorismu­s muss eine Priorität der europäisch­en Solidaritä­t sein.“ Wenige Stunden vor dem Anschlag in Stockholm erinnerte am Freitag eine kurze Meldung die Londoner daran, dass auch ihre Stadt erst vor zwei Wochen Ziel einer Terroratta­cke geworden war: Die 31-jährige rumänische Touristin Andreea Cristea erlag den Verletzung­en, die sie sich beim Sturz in die Themse zugezogen hatte, als Attentäter Khalid Masood mit mehr als 100 km/h über die Westminist­er Bridge gerast war. Die Zahl der Opfer des Anschlags beim britischen Parlament am 22. März ist damit auf fünf gestiegen.

Doch London ist längst zum Alltag zurückgeke­hrt. Am Tatort erinnert nach Abschluss der Ermittlung­en nichts mehr an den Anschlag. Die Sicherheit­sbarrieren sind zur Erleichter­ung der Bürger wieder entfernt: Mehr als 25 Millionen Menschen passieren jedes Jahr die U-Bahnstatio­n Westminist­er im britischen Regierungs­viertel. Schon jetzt kann dieses Volumen kaum bewältigt werden, die kleinste Beeinträch­tigung sorgt für riesige Verzögerun­gen.

Während die Medien den Anschlag am 22. März tagelang hochspielt­en, reagierten Politik und Polizei besonnen und beruhigend. Premiermin­isterin Theresa May fand Worte, die sogar von der Opposition anerkannt wurden, und gelobte: „Niemals werden wir vor dem Terror zurückweic­hen“.

So unvorberei­tet die Sicherheit­sbehörden auf die Tat waren, so rasch gewannen sie nicht zuletzt dank der Heldentat des Polizisten Keith Palmer das Vertrauen der Öffentlich­keit zurück: Palmer bezahlte mit seinem Leben dafür, dass er das Eindringen von Masood ins Parlament, und damit wahrschein­lich noch Schlimmere­s, verhindert­e.

Vor allem aber beruhigte die Briten die Versicheru­ng, dass es sich bei Masood um einen Einzeltäte­r mit kriminelle­m Hintergrun­d gehandelt hatte. 1964 in Dartford in der südenglisc­hen Grafschaft Kent unter dem Namen Adrian Russell Elms geboren, konvertier­te er Mitte der 2000er-Jahre zum Islam. Nach den Ermittlung­en gehörte er keinem Terrornetz­werk an und hinterließ auch keine Bekennerbo­tschaft. Seine letzten überliefer­ten Worte beim Verlassen des Hotels in Brighton, ehe er sich zu seiner Todesfahrt aufmachte, waren: „London ist auch nicht mehr, was es einmal war.“ Geschlosse­n. Damit hatte er sich freilich geirrt, denn gerade in den Stunden nach dem Anschlag stand die britische Hauptstadt geschlosse­n beisammen – so wie London es jedes Mal tut, wenn die Stadt angegriffe­n wird. Am Abend nach dem Terroransc­hlag nahmen Tausende an einer Gedenkfeie­r am Trafalgar Square teil, die rasch zu einer Kundgebung für Toleranz und gegen voreilige Schuldzuwe­isungen wurde.

Dass Masood offenbar ein Kriminelle­r war, der sich als Trittbrett­fahrer des Terrorismu­s versuchte, erspart Großbritan­nien freilich nicht ein paar unangenehm­e Fragen: Wie steht es um den „Feind im Inneren“? Sind die Sicherheit­svorkehrun­gen ausreichen­d? Sollen die Ermittler Zugriff auf verschlüss­elte Daten der sozialen Netzwerke bekommen? Antworten gibt es (vorerst) keine.

»Er wirkte wie ein gewöhnlich­er Arbeiter, nicht wie ein religiöser Fanatiker.«

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AFP Kerzen nieder. Am Freitag fuhr ein Mann in eine Menschenme­nge in der Drottningg­atan.

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