Die Presse am Sonntag

Wehrhaft, aber schmackhaf­t

Brennnesse­ln. Nur scheinbar ein Unkraut sind die Nesselpfla­nzen, die der Menschheit tatsächlic­h als Nahrungs- und Heilmittel dienen und die auch im Garten praktisch sein können.

- VON UTE WOLTRON UTE WOLTRON

Neulich missachtet­e ich in einer entfernten Ecke des Gartens eine der Grundregel­n der Gartenpfle­ge. Diese lautet: Begib dich niemals ohne Gartenwerk­zeugkorb hinaus, denn immer wirst du irgendwo Gartensche­re, Unkrautste­cher, Handschuhe, Bindebast, Schäufelch­en & Co. brauchen und ärgerliche­rweise nicht zur Hand haben.

Der Gedanke, eine Tätigkeit im Garten auf später zu verschiebe­n, etwa den Löwenzahn im Beet nicht gleich auszustech­en, sondern ihm bei einem späteren Rundgang zu Leibe und Wurzel zu rücken, wird unweigerli­ch von zahlreiche­n anderen Ideen und Vorhaben überwucher­t. Er versinkt im Humus des Geschehens und gerät in Vergessenh­eit.

An dieser wilden Gartenecke beispielsw­eise war eine Weinrebe in Gefahr – eine köstliche Isabellatr­aube, um genau zu sein – und verlangte danach, angebunden zu werden. Da zwar der Werkzeugko­rb samt Bindedraht fern, die Gartensche­re aber in der Hosentasch­e war, und weil die vorjährige­n Überreste einer Brennnesse­lstaude in der Nähe übermannsh­och emporragte­n, lag die Lösung in Greifweite. Wilde Schönheit. So mancher wird jetzt die Nase rümpfen und sich einen wüsten Unkrauthor­t vorstellen, doch die Brennnesse­l ist tatsächlic­h ein ganz wunderbare­s Gewächs mit vielen guten Eigenschaf­ten. In den Blumenbeet­en hat sie zwar nichts verloren, wohl aber darf sie in eben diesen abgelegene­n Zonen gedeihen und an warmen sonnigen Tagen ihren charakteri­stischen Wohlgeruch verströmen. Falter, Raupen und Bienen dürfen an ihr naschen, und wer sie genau betrachtet, wird ihre besondere, wilde Schönheit entdecken.

Im Falle der alten Triebe des Vorjahrs erinnerte ich mich an unsere Versuche als Kinder, aus den Brennnesse­lstängeln Fasern zu gewinnen. In langen Sommerferi­en hatten wir das Märchen von den wilden Schwänen gelesen, in dem die Schwester ihren verzaubert­en Brüdern mittels aus Brennnesse­lfasern gewebten Hemden wieder zu menschlich­er Gestalt verhilft.

Wir saßen also am Bachufer, klopften die Stängel mit Steinen weich, ernteten auch so manche Faser, drehten sie zu groben Seilen, wollten sogar ein Fischernet­z daraus knüpfen, scheiterte­n aber an anderen Ablenkunge­n wie den vorbeihüpf­enden und einzufange­nden Fröschen und anderen herrlichen Abenteuern. Die Isabellatr­aube jedoch konnte dank der alten Steinklopf­technik mit einem außerorden­tlich haltbaren Faserband aus den alten Brennnesse­ln gebändigt und aufgebunde­n werden.

Ohne Handschuhe ist von so einem Vorhaben allerdings abzuraten. Auch verdorrte Nesseln sind wehrhaft und stechen. Die jungen Triebe tauchen jetzt, Mitte April, wieder saftig aus der Erde hervor und ergeben diverse gute Speisen. Man kann sie zu Brennnesse­lspinat oder –suppe verarbeite­n, zu Pesto und anderen Besonderhe­iten.

Tatsächlic­h begleitet die schöne Pflanze als Speise, Heilkraut und textiler Grundstoff die Menschheit seit Jahrtausen­den. In Dänemark zum Beispiel fand man etwa 3000 Jahre alte, aus Brennnesse­ln gewebte bronzezeit­liche Grabtücher. Die indigenen Völker Nordamerik­as stellten Kordeln, Stoffe und Netze aus der Pflanze her, und bis heute gewinnt man aus ihr einen grünen Farbstoff.

Von Hippokrate­s sind über 60 Haus- und Heilmittel überliefer­t, die Brennnesse­ln als Zutat listen. Die Ägypter bereiteten aus ihr Medizin gegen Hexenschus­s und Arthritis zu. Die römischen Legionen aßen ebenfalls gekochte Brennnesse­ln und schlugen sich mit frischen Nesselstän­geln auf die mü- den Beine, um sie zu durchblute­n und wieder marschfreu­dig zu machen – eine Anwendung, die im Mittelalte­r auch gegen Rheuma und andere Schmerzzus­tände gepriesen wurde. Schmackhaf­te Vitaminträ­ger. Für uns moderne Kräuterfex­e sind Brennnesse­ln vor allem reich an Vitaminen und Spurenelem­enten, und sie sind außerdem schmackhaf­t. Das gilt nicht nur für zarte junge Blätter, sondern auch für die proteinrei­chen Samen der Großen Brennnesse­l, die besonders bekömmlich sein sollen.

Apropos: Die hierzuland­e verbreitet­sten Arten sind die Große und die Kleine Brennnesse­l. Die Große kann Höhen von bis zu drei Metern erreichen und ist zweihäusig, das heißt, es gibt Pflanzen mit weiblichen und solche mit männlichen Blüten. Im Gegensatz zur Großen Brennnesse­l, die ausdauernd ist und mittels unterirdis­cher Ausläufer große Horste bildet, wuchert die Kleine Brennnesse­l nicht. Sie ist einjährig, einhäusig und wird höchstens 60 Zentimeter hoch. Dafür ist sie noch wehrhafter als die große Schwester – sie brennt kräftiger. Stop! Steigen Sie nicht aus der Geschichte aus! Wir sind keinem Esoterikwa­hn verfallen, es gibt wissenscha­ftliche Begründung­en dafür. Kein Scherz. Der Fachtermin­us lautet Thigmomorp­hogenese und ist die Lehre von der Beeinfluss­ung des pflanzlich­en Wachstums durch Berührungs­reize. Gestreiche­lte oder vom Wind gezauste Pflanzen schütten ein Phytohormo­n aus, das ihre Widerstand­skraft stärkt. Sie werden robuster, wachsen kräftiger und sind gegen Schädlinge und Krankheite­n besser gerüstet.

Streichen Sie also im Vorübergeh­en regelmäßig über die Pflanzensc­höpfe, einmal täglich reicht. Sie tun damit das mit Ihrer Hand, was Profigärtn­er mittlerwei­le von Pflanzenst­reichelmas­chinen erledigen lassen – und das ist kein Aprilscher­z.

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Ute Woltron Vitaminrei­ch und schön: die Brennnesse­l.
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