Wehrhaft, aber schmackhaft
Brennnesseln. Nur scheinbar ein Unkraut sind die Nesselpflanzen, die der Menschheit tatsächlich als Nahrungs- und Heilmittel dienen und die auch im Garten praktisch sein können.
Neulich missachtete ich in einer entfernten Ecke des Gartens eine der Grundregeln der Gartenpflege. Diese lautet: Begib dich niemals ohne Gartenwerkzeugkorb hinaus, denn immer wirst du irgendwo Gartenschere, Unkrautstecher, Handschuhe, Bindebast, Schäufelchen & Co. brauchen und ärgerlicherweise nicht zur Hand haben.
Der Gedanke, eine Tätigkeit im Garten auf später zu verschieben, etwa den Löwenzahn im Beet nicht gleich auszustechen, sondern ihm bei einem späteren Rundgang zu Leibe und Wurzel zu rücken, wird unweigerlich von zahlreichen anderen Ideen und Vorhaben überwuchert. Er versinkt im Humus des Geschehens und gerät in Vergessenheit.
An dieser wilden Gartenecke beispielsweise war eine Weinrebe in Gefahr – eine köstliche Isabellatraube, um genau zu sein – und verlangte danach, angebunden zu werden. Da zwar der Werkzeugkorb samt Bindedraht fern, die Gartenschere aber in der Hosentasche war, und weil die vorjährigen Überreste einer Brennnesselstaude in der Nähe übermannshoch emporragten, lag die Lösung in Greifweite. Wilde Schönheit. So mancher wird jetzt die Nase rümpfen und sich einen wüsten Unkrauthort vorstellen, doch die Brennnessel ist tatsächlich ein ganz wunderbares Gewächs mit vielen guten Eigenschaften. In den Blumenbeeten hat sie zwar nichts verloren, wohl aber darf sie in eben diesen abgelegenen Zonen gedeihen und an warmen sonnigen Tagen ihren charakteristischen Wohlgeruch verströmen. Falter, Raupen und Bienen dürfen an ihr naschen, und wer sie genau betrachtet, wird ihre besondere, wilde Schönheit entdecken.
Im Falle der alten Triebe des Vorjahrs erinnerte ich mich an unsere Versuche als Kinder, aus den Brennnesselstängeln Fasern zu gewinnen. In langen Sommerferien hatten wir das Märchen von den wilden Schwänen gelesen, in dem die Schwester ihren verzauberten Brüdern mittels aus Brennnesselfasern gewebten Hemden wieder zu menschlicher Gestalt verhilft.
Wir saßen also am Bachufer, klopften die Stängel mit Steinen weich, ernteten auch so manche Faser, drehten sie zu groben Seilen, wollten sogar ein Fischernetz daraus knüpfen, scheiterten aber an anderen Ablenkungen wie den vorbeihüpfenden und einzufangenden Fröschen und anderen herrlichen Abenteuern. Die Isabellatraube jedoch konnte dank der alten Steinklopftechnik mit einem außerordentlich haltbaren Faserband aus den alten Brennnesseln gebändigt und aufgebunden werden.
Ohne Handschuhe ist von so einem Vorhaben allerdings abzuraten. Auch verdorrte Nesseln sind wehrhaft und stechen. Die jungen Triebe tauchen jetzt, Mitte April, wieder saftig aus der Erde hervor und ergeben diverse gute Speisen. Man kann sie zu Brennnesselspinat oder –suppe verarbeiten, zu Pesto und anderen Besonderheiten.
Tatsächlich begleitet die schöne Pflanze als Speise, Heilkraut und textiler Grundstoff die Menschheit seit Jahrtausenden. In Dänemark zum Beispiel fand man etwa 3000 Jahre alte, aus Brennnesseln gewebte bronzezeitliche Grabtücher. Die indigenen Völker Nordamerikas stellten Kordeln, Stoffe und Netze aus der Pflanze her, und bis heute gewinnt man aus ihr einen grünen Farbstoff.
Von Hippokrates sind über 60 Haus- und Heilmittel überliefert, die Brennnesseln als Zutat listen. Die Ägypter bereiteten aus ihr Medizin gegen Hexenschuss und Arthritis zu. Die römischen Legionen aßen ebenfalls gekochte Brennnesseln und schlugen sich mit frischen Nesselstängeln auf die mü- den Beine, um sie zu durchbluten und wieder marschfreudig zu machen – eine Anwendung, die im Mittelalter auch gegen Rheuma und andere Schmerzzustände gepriesen wurde. Schmackhafte Vitaminträger. Für uns moderne Kräuterfexe sind Brennnesseln vor allem reich an Vitaminen und Spurenelementen, und sie sind außerdem schmackhaft. Das gilt nicht nur für zarte junge Blätter, sondern auch für die proteinreichen Samen der Großen Brennnessel, die besonders bekömmlich sein sollen.
Apropos: Die hierzulande verbreitetsten Arten sind die Große und die Kleine Brennnessel. Die Große kann Höhen von bis zu drei Metern erreichen und ist zweihäusig, das heißt, es gibt Pflanzen mit weiblichen und solche mit männlichen Blüten. Im Gegensatz zur Großen Brennnessel, die ausdauernd ist und mittels unterirdischer Ausläufer große Horste bildet, wuchert die Kleine Brennnessel nicht. Sie ist einjährig, einhäusig und wird höchstens 60 Zentimeter hoch. Dafür ist sie noch wehrhafter als die große Schwester – sie brennt kräftiger. Stop! Steigen Sie nicht aus der Geschichte aus! Wir sind keinem Esoterikwahn verfallen, es gibt wissenschaftliche Begründungen dafür. Kein Scherz. Der Fachterminus lautet Thigmomorphogenese und ist die Lehre von der Beeinflussung des pflanzlichen Wachstums durch Berührungsreize. Gestreichelte oder vom Wind gezauste Pflanzen schütten ein Phytohormon aus, das ihre Widerstandskraft stärkt. Sie werden robuster, wachsen kräftiger und sind gegen Schädlinge und Krankheiten besser gerüstet.
Streichen Sie also im Vorübergehen regelmäßig über die Pflanzenschöpfe, einmal täglich reicht. Sie tun damit das mit Ihrer Hand, was Profigärtner mittlerweile von Pflanzenstreichelmaschinen erledigen lassen – und das ist kein Aprilscherz.