Im Labyrinth des guten Stils
Das Modeatelier Knize am Graben ist eine Institution. Schneidermeister Rudolf Niedersüß kennt nach 61 Jahren im Geschäft jeden Winkel und jede Schnurre. Von erzürnten Dirigenten, gekrönten Häuptern und der Aversion gegen die Jeans.
Rudolf Niedersüß leitet einen durch verwinkelte Gänge und ein enges Stiegenhaus hinab, öffnet eine Tapetentür – und plötzlich steht man im hellen Verkaufsraum seiner Herrenmodeboutique in der Bräunerstraße.
Der Trick mit der Verbindungstür ins Zweitgeschäft, der leicht an eine Szene aus dem „Phantom der Oper“erinnert – nur ohne Maske, Spinnweben und flackernden Kerzenschein –, hat einen sehr rationalen Hintergrund: „Wir hatten zu Anfang immer das Problem, dass sich die Kunden nicht hineingetraut haben“, erzählt er über das ehrwürdige Stammhaus am Graben. Adolf Loos hatte der Firma Knize, die schon den Kaiser ausstattete, 1910 im Haus mit der Nummer 13 ein architektonisches Denkmal gesetzt, das bis heute in Wiener Stadtführern aufscheint. Nur ist der Eingang zu dem Denkmal wenig einladend. Aus dunklem Marmor und 70 Zentimeter schmal, gibt das Portal den Blick auf einige Kleiderpuppen und eine enge Treppe ins erste Stockwerk frei. Unerwartete Größe. Heute, wo man die benachbarte Fensterfront samt dahinterliegendem Verkaufsraum besitzt, ist die Hemmschwelle verschwunden. Als Rudolf Niedersüß das Unternehmen 1976 der in den USA lebenden Familie Knize abkaufte, wussten aber nur seine Stammkunden von den stillvollen, von Loos in dunklem Eichenholz und grünem Teppich durchkomponierten Räumen im ersten Stock.
Seit damals hat sich vieles verändert, sagt Niedersüß. Weit mehr als der Zukauf der Fensterfront zum Graben. Als er das Atelier übernahm, waren sie 28 Schneider, die in den hauseigenen Werkstätten an den Maßanzügen und Kostümen arbeiteten. Heute sind es noch zehn. Ihren Platz nahmen die Regale mit Konfektionsware ein, die sich immer weiter ins Innere des verzweigten, labyrinthisch anmutenden Geschäfts ausbreiteten und heute 90 Prozent des Umsatzes ausmachen.
„Wir könnten noch viel Maßarbeit anfertigen, wir bekommen nur keine Mitarbeiter“, sagt Niedersüß. Gute Schneiderlehrlinge seien rar, seit es alle auf die Universitäten zieht. Die Branche habe ein wirkliches Problem. „Eigentlich nehmen wir seit drei Jahren keine Neukunden für Maßarbeiten mehr“, sagt Niedersüß. Um heute in die rund 500 Namen umfassende Kartei aufgenommen zu werden, dürfte man ungewöhnlich gute Referenzen mitbringen müssen. Das nötige Kleingeld – ein Zweiteiler von Knize kostet 7000 Euro, samt Weste kommt man auf 8500 Euro – und ein Zeitpolster von drei Monaten – so lange dauert die Anfertigung – wären auch von Vorteil.
Sein ehemaliger Chef, Peter Knize, habe den Dirigenten Herbert von Karajan, der für sein Temperament bekannt war, einmal nachhaltig brüskiert, als er ihm auf die Bestellung eines Fracks innerhalb einer Woche antwortete: „Wenn Sie in einer Woche eine Oper inszenieren können, dann können wir Ihnen in einer Woche einen Frack nähen.“Der Maestro habe sich daraufhin auf dem Absatz umgedreht und das Atelier nie wieder betreten.
Für die, die es in den illustren Kundenkreis schaffen, fühlt sich der Chef auch noch nach 61 Berufsjahren höchstpersönlich zuständig. Sechs Tage die Woche nimmt der 82-Jährige in seinem Verkaufslokal Maß oder huscht durch die verwinkelten Verbindungsgänge zwischen den Werkstätten hin und her. „Ich bin schließlich der Schneider“, sagt er achselzuckend.
1956 trat Niedersüß nach der Modeschule Michelbeuern als Praktikant in das renommierte Geschäft am Graben ein, das sowohl Dirigenten wie Lehar und Karajan (zumindest anfangs noch) wie auch Stars wie Marlene Dietrich oder Josephine Baker ausgestattet hatte. Nach sieben Jahren kaufte er den damals ebenso berühmten Herrenschneider C. M. Frank. Dessen Niedergang wurde laut Niedersüß jedoch bereits ein Jahrzehnt davor, 1953, eingeleitet, als die Russen den ehemaligen k. u. k. Hoflieferanten aus seinem Geschäft neben dem Hotel Imperial am Ring schmissen, um dort ihre Kommandantur in der Besatzungszone einzurichten. In einem viel kleineren Rahmen leitete Niedersüß im vierten Bezirk für 13 Jahre das neue Atelier von C. M. Frank, bevor der einstige Prakti- 1858 eröffnete der böhmische Schneider Josef Knize im Textilviertel am Donaukanal sein erstes Geschäft. Nach einer Station am Hof übersiedelte der mittlerweile zum k. u. k. Hofschneider ernannte Betrieb an den Graben. 1910 bis 1913 gestaltete der Wiener Architekt Adolf Loos das heutige Knize-Stammhaus mit dem engen Marmorportal und den ausladenden Anproberäumen im ersten Stock. Die Modefirma erlangte in den Folgejahrzehnten weltweiten Ruhm. Heute führt Rudolf Niedersüß, der 1956 als Praktikant bei Knize begann, die Geschäfte. Die Übergabe an seinen Sohn Bernhard Niedersüß, ebenfalls Schneidermeister mit eigenem Atelier in Wien, soll laut dem Vater bald stattfinden. kant 1976 als neuer Eigentümer in das Haus am Graben zurückkehrte.
Mit im Gepäck: Hofschneiderdekrete von Frank, ausgestellt von den Größen Europas – von Napoleon III. und dem Prinz of Wales und späteren King Edward VII. bis hin zu Vittorio Emanuele. Heute zieren sie die Wände der Verkaufsräume am Graben. Die zwei Firmennamen stehen seit den Siebzigern nebeneinander auf der Visitenkarte. Das kleine Geschäftslokal auf der Wieden, in das die Firma Frank damals ausweichen musste, dient heute nur noch als Lager. New York, Paris, Bad Gastein. Die goldenen Lettern auf dem marmornen Tor von Loos erinnern an versunkene Tage, die noch länger zurückliegen als Niedersüß’ Zwischenspiel bei C. M. Frank. „New York, Paris, Bad Gastein“steht da in Blockbuchstaben. Der Schriftzug, der nach großer Welt riecht, entspricht nicht mehr ganz der Wahrheit. Die Dependancen im Ausland und im österreichischen Kurort gibt es seit einigen Jahrzehnten nicht mehr. Nur die Prager Filiale, die man hinter dem Eisernen Vorhang verlor, sperrte vor einiger Zeit neu auf – passend, kam Gründer Josef Knize doch 1858 aus Böhmen. Der Name, den man mit einem „sch“statt „z“in der Mitte ausspricht, bedeutet übersetzt – ebenfalls recht passend zur gekrönten Klientel – Fürst.
„Die unausweichliche Frage nach dem Stil beginnt mit der Überwindung der Mode“, liest man auf der Firmen- Blickfänge: an den Wänden die Stoffe, auf dem Tischchen die Krägen. Homepage. Der Leitsatz begleitet den gebürtigen Oberösterreicher Niedersüß seit Beginn der Karriere. Er trauert den Zeiten nach, als sich die Kundschaft zur Anprobe einmal in Wien, einmal im mondänen Bad Gastein einfand. Als die Regenmäntel noch so lang waren, dass die Knie nicht nass wurden. Als man einmal wöchentlich für feine Anlässe den Frack anlegte und im Gehrock das Haus verließ. „Nachdem ich mich lange dagegen gewehrt habe, verkaufen wir heute auch Jeans“, setzt Niedersüß seiner Aufzählung hinzu. „Schrecklich.“Die heutige Mode sei frei jeder Eleganz und grenze für ihn an Geschmacklosigkeit. Niedersüß wirkt persönlich beleidigt, als er bei diesen Worten in seinem Dreiteiler aus dem von Loos getäfelten Arbeitszimmer auf den sonnigen Graben hinausblickt.
»Wir könnten viel Maßarbeit anfertigen, wir bekommen nur keine Mitarbeiter.« »Die unausweichliche Frage nach dem Stil beginnt mit der Überwindung der Mode.«
Er selbst trage nur in einem Ausnahmefall Jeans: draußen auf dem Land. Früher habe er im Schlossgarten von Persenbeug einen kleinen Grund für sein Hobby, das Gärtnern, gehabt. Die befreundeten Eigentümer, die Familie Habsburg-Lothringen, habe ihren Augen beim Spaziergang durch den Park nicht trauen können: Herr Niedersüß in Jeans. Niedersüß lacht. In dem Moment ist es schwer zu glauben, dass er 82 sein soll.