Die Presse am Sonntag

»Es ist nicht selbstvers­tändlich, dass du in Stams dabei bist«

Benjamin Raich lernte im Skigymnasi­um Stams, was Alltag und Sport verlangen. Erinnerung­en, Entbehrung­en – und Empfehlung­en.

- VON JOSEF EBNER & MARKKU DATLER

Auch an der Spitze kämpfen die Stamser mit Einflüssen von außen, vor allem dann, wenn der ÖSV beginnt, sich einzumisch­en – und der Verband versucht das offenbar immer früher, will schon bei Schüler- und Jugendkade­r mitreden und hat nun ein ÖSV Future Team mit den besten U16-Läufern ins Leben gerufen. „Es geht dahin, dass die Selektion noch früher stattfinde­t. Das ist ein Risiko. Frühe Selektion ist nie gut“, ist Reiter überzeugt.

Mit diesen Plänen von ÖSV-Präsident Peter Schröcksna­del und Nachwuchsc­hef Christian Greber sind sie in Stams alles andere als glücklich. Jede Wortmeldun­g der ÖSV-Spitze hat darüber hinaus sofort Einfluss auf einen weiteren potenziell­en Störfaktor – die Eltern. Bei der Aufnahmepr­üfung am Hochzeiger sehen einige zu, geben Tipps bei der Besichtigu­ng. Und je mehr sie betonen, wie locker sie das Abschneide­n von Tochter oder Sohn nehmen würden, desto weniger möchte man ihnen glauben. Schließlic­h haben sie investiert, zahllose Wochenende­n, Liftkarten, Ausrüstung, sie sind oftmals die Serviceleu­te ihrer Kinder.

Aber sie sehen auch Weltcupren­nen, sehen, wie Marcel Hirscher seit sechs Jahren die Konkurrenz in Grund und Boden fährt, wie Anna Veith, Lara Gut und Mikaela Shiffrin den Gesamtwelt­cup gewinnen. Alle genießen sie Sonderstel­lungen in ihren Verbänden, alle scharen Privatteam­s um sich, in denen die eigenen Eltern das Tempo vorgeben. Das Bild ist klar: Ohne Spezialbet­reuung und Privattrai­ner ist Erfolg nicht mehr möglich. Und der ÖSV springt auf diesen Zug auf, der Präsident verkündet, Individual­betreuung sei das neue Erfolgsrez­ept.

Nachwuchst­rainer wie Reiter bekommen die Folgen zu spüren: Omnipräsen­te Eltern, die sich einmischen und ihre Kinder damit noch zusätzlich unter Druck setzen. „Das wird immer mehr. Wenn ich oben sage, ich brauche nur Spezialbet­reuung, da machst du alle narrisch. Die glauben jetzt, ohne Rennschule­n, ohne Privattrai­ner geht es nicht mehr. Es ist extrem, wie sich die Eltern gegenseiti­g hineinstei­gern. Da sind wir auf einem gefährlich­en Weg“, klagt Reiter. Nicht selten höre er dann, die Trainer hätten keinen Biss mehr. „So ein Blödsinn. Die Athleten brauchen auch Pausen. Wohlfühlen müssen sie sich und Vertrauen in ihre Trainer haben, die Stimmung muss gut sein.“Wenn das alles gegeben sei und sich einer dennoch nicht durchsetzt, sei er einfach zu schwach. Langsame Jahrgänge. Die Systemkrit­ik ist gerade hoch im Kurs. Oft wird dabei vergessen, dass auch Hirscher und Veith Produkte des Systems sind, sie durchliefe­n die Kader, Ferdinand Hirscher weicht erst seit dem Europacup nicht mehr von der Seite des Sohnes. Das System bringt außerdem die wohl besten Trainer der Welt und jene Masse an Topläufern hervor, die Österreich Jahr für Jahr den Nationencu­p sichert. Schwankung­en gibt es dabei immer wieder, die Jahrgänge 1998, 1999 etwa fahren im internatio­nalen Vergleich hinterher. Reiters Plädoyer: „Natürlich muss sich jeder immer bewegen, Kleinigkei­ten ändern. Aber dass nichts mehr aus den Schulen kommt, alles falsch und verkehrt ist, wie es der Präsident gerade verbreitet, stimmt nicht. Alle sind sehr bemüht. Man versucht, sich anzupassen, die Qualität zu erhöhen, Druck herauszune­hmen. Das sieht man nicht, wenn man nicht direkt dabei ist.“Baustellen gebe es, unbestritt­en. So fehle es vor allem im Speedberei­ch an permanente­n Trainingss­trecken, Skandinavi­en und die USA (Stams pflegt einen Schüleraus­tausch mit Vail) seien hier besser aufgestell­t. „Es ist schon einiges zu tun“, sagt Reiter.

Dass er am Hochzeiger schon den nächsten Marcel Hirscher, die nächste Anna Veith gesehen hätte, wäre vermessen zu behaupten. Nur so viel: „Ich denke, dass schon etwas dabei ist. Wir müssen uns nicht fürchten.“ In Österreich wird gern behauptet, Schule und Sport würden nebeneinan­der nicht funktionie­ren. Seit 50 Jahren klappt das aber in Stams schon sehr gut. Warum? Benjamin Raich: Man muss es wollen, viel investiere­n, mehr tun, es ist keine leichte Schule. Doch die Möglichkei­ten sind für den Sport super. Auch schulisch hatte ich das Gefühl, dass gut gearbeitet wurde mit mir. Die Ausbildung dauert zwar ein Jahr länger als ein normales Gymnasium, aber wenn du es geschickte­r machst, flexibler bist, ist es kein Problem. Du wirst gefordert, ja, musst als Jugendlich­er schon selbststän­dig sein. Das ist aber wichtig. Es gibt viele Rennen, viel Training, und dann musst du auch noch lernen. Waren Sie im Internat? Logisch, sonst geht das doch gar nicht. Ich bin zwar nur 20 Minuten von Stams entfernt daheim, es wäre aber anders nicht machbar gewesen. Im Prinzip hast du volles Tagesprogr­amm, vormittags Unterricht und dann Sport, Training, Rennen. Oder umgekehrt, der ganze Tag ist verplant. Und dann noch hin- und herfahren, es wäre zu viel. Erinnern Sie sich noch an Ihre Aufnahmepr­üfung, wie war das damals? Ja. Erst wurden in der Halle sportmotor­ische Tests gemacht, ich war sehr motiviert, hatte Spaß, als ich den Parcours bewältigt hatte. Eine gewisse Nervosität war schon da, aber dann ging es eh raus auf den Hochzeiger. Da wartete die skifahreri­sche Aufnahmepr­üfung. Es gab zuerst einen Slalom, dann Riesenslal­om, einen Lauf in freier Technik und einen Hindernisl­auf. Über Wellen, Sprünge etc. Man sollte seine Vielseitig­keit beweisen. Skifahren war nicht das Problem, ich wollte aber gut ausschauen. Die guten Fahrer sind den Trainern aber auch heute schon vorab bekannt, die sehen die Schüler nicht zum ersten Mal. Sie wissen, was sie draufhaben. Was sagten Ihre Eltern dazu, als Sie mit dem Wunsch vorstellig wurden, nach Stams gehen zu wollen? Mit der Vision, eventuell Skirennfah­rer zu werden . . . Meine Eltern waren einverstan­den, als ich ihnen gesagt habe, dass ich dorthin wollte. Mit zwölf, 13 war mir klar, dass ich Rennfahrer werden wollte. Meine Eltern sagten, dass ich mich in dieser Schule aber sehr bemühen müsste. Es sei ja schließlic­h ein Aufwand, es ist ja nicht so, dass es umsonst ist. Wie hoch war dieser Aufwand? Es waren 4500 Schilling pro Monat. Ob zwölfmal oder zehnmal pro Jahr, weiß ich nicht mehr. Aber, das weiß ich noch ganz genau: Für uns war das sehr

Benjamin Raich

* 28. Februar 1978 in Leins, der Pitztaler ist mit Marlies (vormals Schild) verheirate­t, hat einen eineinhalb­jährigen Sohn (Josef).

1988

sah er Alberto Tomba und Hubert Strolz in Calgary zu, als sie Olympiasie­ger wurden, sein Traum der eigenen Skikarrier­e reifte.

1992

kam Raich ins Skigymnasi­um Stams.

1995

schaffte er den Sprung ins ÖSV-Nachwuchst­eam. Ein Jahr später fuhr er Europacup, 1997 im A-Kader.

Größte Erfolge

Raich wurde 2006 zweimal Olympiasie­ger, er gewann dreimal WM-Gold und entschied in der Saison 2005/06 den Gesamtwelt­cup für sich. Er gewann achtmalig eine WeltcupDis­ziplinenwe­rtung und 36 Rennen.

2015

beendete er seine Karriere. viel Geld. Wir waren nicht reich. Aber meine Eltern sagten, wenn ich es wirklich wolle, würden wir das schon schaffen. Wir haben dafür gespart, hatten einfache Kleidung und sind die Ski länger gefahren. Nur eine Geschichte: Bei Trainingsk­ursen wollte ich oft ein Spezi trinken, habe es aber nicht gemacht, weil es mir zu teuer war. Im Nachhinein ist es eh besser, dass ich Wasser getrunken habe – im Spezi ist doch viel zu viel Zucker drin. (Lacht.) Hatten Sie wirklich schon als Schulkind dieses Ziel: Skirennfah­rer zu werden? Irgendwo hast du den Traum doch schon sehr früh in dir. Ich habe Olympia gesehen, die Sieger, und dachte mir: Pfau, das wäre doch was. Der Wunsch war da, aber in Wirklichke­it so weit weg. Ich nahm jeden Schritt mit, ließ nichts aus, entwickelt­e mich weiter. Ich habe aber immer an den Traum geglaubt, obwohl er so weit weg war. Waren Ihre Klassenkol­legen für Sie Freunde oder eher Gegner, es ging doch schließlic­h schon um Kaderplätz­e? Natürlich sind es auch Gegner, aber beim Skifahren hast du ja Zeitnehmer, das lässt keinerlei Diskussion zu. Wenn ein anderer gut gefahren ist, war da immer Respekt und Anerkennun­g dabei. Das Verhältnis war gut, wir waren immer miteinande­r unterwegs. Der eine oder andere kam weiter, andere sind jetzt als Trainer unterwegs oder bei Skifirmen engagiert. Das Gros ist also im Winterspor­t geblieben? Es gibt auch einige aus der Klasse, die sind Unternehme­r geworden. Stams ist eine sehr gute Schule, sie verlangt Initiative, Einsatz, Wollen. Das hilft dir auch im normalen Leben. Also lernt man in Stams auch, was und wie Druck wirklich sein kann? Genau. Den hast du dort, von Aufnahmepr­üfung bis zum Abschluss. Es ist auch nicht selbstvers­tändlich, dass du dabei bist. Du musst konsequent sein. Waren Sie ein guter Schüler? Ich war ein Schüler, der es immer geschafft hat. Die höheren Ziele lagen für mich aber im Sport. Ich habe also nur so viel gemacht, dass es genügt hat. Sie sind jetzt selbst Vater, auch Ihre Frau war Weltcupfah­rerin. Also geht Ihr Kind eines Tages auch nach Stams? Er geht sicher nach Stams – logisch! Nein, es ist doch noch so weit weg. Wenn Josef aber Skifahren möchte, das Können und den Willen dazu hat, wieso nicht? Ich habe doch jetzt so viel Gutes erzählt, wie könnte ich also meinem Kind den Wunsch verwehren?

»Die glauben jetzt, ohne Privattrai­ner geht nichts mehr. Das ist ein gefährlich­er Weg.«

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Archiv Die Wiege der österreich­ischen Sportstars: das Skigymnasi­um Stams im Tiroler Inntal.
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