»Es ist nicht selbstverständlich, dass du in Stams dabei bist«
Benjamin Raich lernte im Skigymnasium Stams, was Alltag und Sport verlangen. Erinnerungen, Entbehrungen – und Empfehlungen.
Auch an der Spitze kämpfen die Stamser mit Einflüssen von außen, vor allem dann, wenn der ÖSV beginnt, sich einzumischen – und der Verband versucht das offenbar immer früher, will schon bei Schüler- und Jugendkader mitreden und hat nun ein ÖSV Future Team mit den besten U16-Läufern ins Leben gerufen. „Es geht dahin, dass die Selektion noch früher stattfindet. Das ist ein Risiko. Frühe Selektion ist nie gut“, ist Reiter überzeugt.
Mit diesen Plänen von ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel und Nachwuchschef Christian Greber sind sie in Stams alles andere als glücklich. Jede Wortmeldung der ÖSV-Spitze hat darüber hinaus sofort Einfluss auf einen weiteren potenziellen Störfaktor – die Eltern. Bei der Aufnahmeprüfung am Hochzeiger sehen einige zu, geben Tipps bei der Besichtigung. Und je mehr sie betonen, wie locker sie das Abschneiden von Tochter oder Sohn nehmen würden, desto weniger möchte man ihnen glauben. Schließlich haben sie investiert, zahllose Wochenenden, Liftkarten, Ausrüstung, sie sind oftmals die Serviceleute ihrer Kinder.
Aber sie sehen auch Weltcuprennen, sehen, wie Marcel Hirscher seit sechs Jahren die Konkurrenz in Grund und Boden fährt, wie Anna Veith, Lara Gut und Mikaela Shiffrin den Gesamtweltcup gewinnen. Alle genießen sie Sonderstellungen in ihren Verbänden, alle scharen Privatteams um sich, in denen die eigenen Eltern das Tempo vorgeben. Das Bild ist klar: Ohne Spezialbetreuung und Privattrainer ist Erfolg nicht mehr möglich. Und der ÖSV springt auf diesen Zug auf, der Präsident verkündet, Individualbetreuung sei das neue Erfolgsrezept.
Nachwuchstrainer wie Reiter bekommen die Folgen zu spüren: Omnipräsente Eltern, die sich einmischen und ihre Kinder damit noch zusätzlich unter Druck setzen. „Das wird immer mehr. Wenn ich oben sage, ich brauche nur Spezialbetreuung, da machst du alle narrisch. Die glauben jetzt, ohne Rennschulen, ohne Privattrainer geht es nicht mehr. Es ist extrem, wie sich die Eltern gegenseitig hineinsteigern. Da sind wir auf einem gefährlichen Weg“, klagt Reiter. Nicht selten höre er dann, die Trainer hätten keinen Biss mehr. „So ein Blödsinn. Die Athleten brauchen auch Pausen. Wohlfühlen müssen sie sich und Vertrauen in ihre Trainer haben, die Stimmung muss gut sein.“Wenn das alles gegeben sei und sich einer dennoch nicht durchsetzt, sei er einfach zu schwach. Langsame Jahrgänge. Die Systemkritik ist gerade hoch im Kurs. Oft wird dabei vergessen, dass auch Hirscher und Veith Produkte des Systems sind, sie durchliefen die Kader, Ferdinand Hirscher weicht erst seit dem Europacup nicht mehr von der Seite des Sohnes. Das System bringt außerdem die wohl besten Trainer der Welt und jene Masse an Topläufern hervor, die Österreich Jahr für Jahr den Nationencup sichert. Schwankungen gibt es dabei immer wieder, die Jahrgänge 1998, 1999 etwa fahren im internationalen Vergleich hinterher. Reiters Plädoyer: „Natürlich muss sich jeder immer bewegen, Kleinigkeiten ändern. Aber dass nichts mehr aus den Schulen kommt, alles falsch und verkehrt ist, wie es der Präsident gerade verbreitet, stimmt nicht. Alle sind sehr bemüht. Man versucht, sich anzupassen, die Qualität zu erhöhen, Druck herauszunehmen. Das sieht man nicht, wenn man nicht direkt dabei ist.“Baustellen gebe es, unbestritten. So fehle es vor allem im Speedbereich an permanenten Trainingsstrecken, Skandinavien und die USA (Stams pflegt einen Schüleraustausch mit Vail) seien hier besser aufgestellt. „Es ist schon einiges zu tun“, sagt Reiter.
Dass er am Hochzeiger schon den nächsten Marcel Hirscher, die nächste Anna Veith gesehen hätte, wäre vermessen zu behaupten. Nur so viel: „Ich denke, dass schon etwas dabei ist. Wir müssen uns nicht fürchten.“ In Österreich wird gern behauptet, Schule und Sport würden nebeneinander nicht funktionieren. Seit 50 Jahren klappt das aber in Stams schon sehr gut. Warum? Benjamin Raich: Man muss es wollen, viel investieren, mehr tun, es ist keine leichte Schule. Doch die Möglichkeiten sind für den Sport super. Auch schulisch hatte ich das Gefühl, dass gut gearbeitet wurde mit mir. Die Ausbildung dauert zwar ein Jahr länger als ein normales Gymnasium, aber wenn du es geschickter machst, flexibler bist, ist es kein Problem. Du wirst gefordert, ja, musst als Jugendlicher schon selbstständig sein. Das ist aber wichtig. Es gibt viele Rennen, viel Training, und dann musst du auch noch lernen. Waren Sie im Internat? Logisch, sonst geht das doch gar nicht. Ich bin zwar nur 20 Minuten von Stams entfernt daheim, es wäre aber anders nicht machbar gewesen. Im Prinzip hast du volles Tagesprogramm, vormittags Unterricht und dann Sport, Training, Rennen. Oder umgekehrt, der ganze Tag ist verplant. Und dann noch hin- und herfahren, es wäre zu viel. Erinnern Sie sich noch an Ihre Aufnahmeprüfung, wie war das damals? Ja. Erst wurden in der Halle sportmotorische Tests gemacht, ich war sehr motiviert, hatte Spaß, als ich den Parcours bewältigt hatte. Eine gewisse Nervosität war schon da, aber dann ging es eh raus auf den Hochzeiger. Da wartete die skifahrerische Aufnahmeprüfung. Es gab zuerst einen Slalom, dann Riesenslalom, einen Lauf in freier Technik und einen Hindernislauf. Über Wellen, Sprünge etc. Man sollte seine Vielseitigkeit beweisen. Skifahren war nicht das Problem, ich wollte aber gut ausschauen. Die guten Fahrer sind den Trainern aber auch heute schon vorab bekannt, die sehen die Schüler nicht zum ersten Mal. Sie wissen, was sie draufhaben. Was sagten Ihre Eltern dazu, als Sie mit dem Wunsch vorstellig wurden, nach Stams gehen zu wollen? Mit der Vision, eventuell Skirennfahrer zu werden . . . Meine Eltern waren einverstanden, als ich ihnen gesagt habe, dass ich dorthin wollte. Mit zwölf, 13 war mir klar, dass ich Rennfahrer werden wollte. Meine Eltern sagten, dass ich mich in dieser Schule aber sehr bemühen müsste. Es sei ja schließlich ein Aufwand, es ist ja nicht so, dass es umsonst ist. Wie hoch war dieser Aufwand? Es waren 4500 Schilling pro Monat. Ob zwölfmal oder zehnmal pro Jahr, weiß ich nicht mehr. Aber, das weiß ich noch ganz genau: Für uns war das sehr
Benjamin Raich
* 28. Februar 1978 in Leins, der Pitztaler ist mit Marlies (vormals Schild) verheiratet, hat einen eineinhalbjährigen Sohn (Josef).
1988
sah er Alberto Tomba und Hubert Strolz in Calgary zu, als sie Olympiasieger wurden, sein Traum der eigenen Skikarriere reifte.
1992
kam Raich ins Skigymnasium Stams.
1995
schaffte er den Sprung ins ÖSV-Nachwuchsteam. Ein Jahr später fuhr er Europacup, 1997 im A-Kader.
Größte Erfolge
Raich wurde 2006 zweimal Olympiasieger, er gewann dreimal WM-Gold und entschied in der Saison 2005/06 den Gesamtweltcup für sich. Er gewann achtmalig eine WeltcupDisziplinenwertung und 36 Rennen.
2015
beendete er seine Karriere. viel Geld. Wir waren nicht reich. Aber meine Eltern sagten, wenn ich es wirklich wolle, würden wir das schon schaffen. Wir haben dafür gespart, hatten einfache Kleidung und sind die Ski länger gefahren. Nur eine Geschichte: Bei Trainingskursen wollte ich oft ein Spezi trinken, habe es aber nicht gemacht, weil es mir zu teuer war. Im Nachhinein ist es eh besser, dass ich Wasser getrunken habe – im Spezi ist doch viel zu viel Zucker drin. (Lacht.) Hatten Sie wirklich schon als Schulkind dieses Ziel: Skirennfahrer zu werden? Irgendwo hast du den Traum doch schon sehr früh in dir. Ich habe Olympia gesehen, die Sieger, und dachte mir: Pfau, das wäre doch was. Der Wunsch war da, aber in Wirklichkeit so weit weg. Ich nahm jeden Schritt mit, ließ nichts aus, entwickelte mich weiter. Ich habe aber immer an den Traum geglaubt, obwohl er so weit weg war. Waren Ihre Klassenkollegen für Sie Freunde oder eher Gegner, es ging doch schließlich schon um Kaderplätze? Natürlich sind es auch Gegner, aber beim Skifahren hast du ja Zeitnehmer, das lässt keinerlei Diskussion zu. Wenn ein anderer gut gefahren ist, war da immer Respekt und Anerkennung dabei. Das Verhältnis war gut, wir waren immer miteinander unterwegs. Der eine oder andere kam weiter, andere sind jetzt als Trainer unterwegs oder bei Skifirmen engagiert. Das Gros ist also im Wintersport geblieben? Es gibt auch einige aus der Klasse, die sind Unternehmer geworden. Stams ist eine sehr gute Schule, sie verlangt Initiative, Einsatz, Wollen. Das hilft dir auch im normalen Leben. Also lernt man in Stams auch, was und wie Druck wirklich sein kann? Genau. Den hast du dort, von Aufnahmeprüfung bis zum Abschluss. Es ist auch nicht selbstverständlich, dass du dabei bist. Du musst konsequent sein. Waren Sie ein guter Schüler? Ich war ein Schüler, der es immer geschafft hat. Die höheren Ziele lagen für mich aber im Sport. Ich habe also nur so viel gemacht, dass es genügt hat. Sie sind jetzt selbst Vater, auch Ihre Frau war Weltcupfahrerin. Also geht Ihr Kind eines Tages auch nach Stams? Er geht sicher nach Stams – logisch! Nein, es ist doch noch so weit weg. Wenn Josef aber Skifahren möchte, das Können und den Willen dazu hat, wieso nicht? Ich habe doch jetzt so viel Gutes erzählt, wie könnte ich also meinem Kind den Wunsch verwehren?
»Die glauben jetzt, ohne Privattrainer geht nichts mehr. Das ist ein gefährlicher Weg.«