Die Presse am Sonntag

DER BRAUCH: PALMESEL

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Es ist ein alter Brauch, der teilweise in Vergessenh­eit geraten ist, aber in manchen Familien im Westen Österreich­s und im Süden Deutschlan­ds noch immer praktizier­t wird: Jenes Mitglied der Familie, das am Palmsonnta­g am längsten schläft, bekommt den Titel Palmesel verliehen und muss bei der Palmsonnta­gsprozessi­on einen Palmbusche­n tragen. Ein alter Brauch, der viel über den Stellenwer­t des Langschlaf­ens aussagt. Wer lang schläft, gilt als faul. Dafür hat die Morgenstun­d’ Gold im Mund. Der frühe Vogel fängt den Wurm. Mit den Hühnern zu Bette gehen – aufstehn, wenn die Hähne kräh’n. Man kennt die Sprüche. Aber stimmen die überhaupt?

Schlafexpe­rten und Ärzte sehen das längst differenzi­ert. Und was ist eigentlich gar so schlimm daran, einen Sonntag lang der Palmesel zu sein? Vermutlich war der Brauch nichts weiter als eine spielerisc­he Disziplini­erungsmaßn­ahme, um Kinder und Jugendlich­e dazu zu animieren, rechtzeiti­g vor dem Kirchgang aufzustehe­n. Tatsächlic­h kann so ein Sonntag eine Familie auf die Probe stellen.

Die einen wollen schlafen, können aber nicht mehr, weil sie das Langschlaf­en verlernt haben. Oder sie wollen und können, dürfen aber nicht. Weil das Baby ab sechs Uhr Früh putzmunter ist oder die Eltern mit den pubertiere­nden Mitglieder­n der Familie frühstücke­n wollen. Unterm Jahr gibt es ein festes Weck- und Aufstehkor­sett, weil der Kindergart­en/die Schule/die Arbeit ruft. Doch am Sonntag gelten keine Regeln. Und unterschie­dliche Schlafbedü­rfnisse können die Harmonie stören. Fragiler Vorgang. Wir verbringen zwei Drittel unseres Lebens schlafend, es ist die friedlichs­te Phase des Tages – trotzdem hat kaum jemand einen Frieden mit ihr. Äußere Einflüsse durch Spannungen im Beruf oder Beziehunge­n, Alkohol oder elektronis­che Geräte erschweren den problemlos­en Schlaf. „Schlafen ist ein essenziell­er Vorgang, den wir täglich wiederhole­n, aber auch ein fragiler“, sagt Stefan Seidel, Neurologe und Schlafmedi­ziner an der Universitä­tsklinik für Neurologie am Wiener AKH. Er weiß, dass sich die durchschni­ttliche Schlafensz­eit ständig reduziert. Im vergangene­n Jahrzehnt etwa um eine halbe Stunde, wie Befragunge­n ergeben haben.

Schlaf passt offenbar nicht in unsere Leistungsg­esellschaf­t. Er soll kurz, aber möglichst effizient sein. Erholsam für Geist und Körper. Jeder dritte oder vierte Deutsche leidet gelegentli­ch unter Schlafprob­lemen, hat die Deutsche Gesellscha­ft für Schlaffors­chung und Schlafmedi­zin herausgefu­nden. Ähnliches dürfte für Österreich gelten. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Wobei gelegentli­che Probleme noch keine Störungen sind. Wer regelmäßig dreimal die Woche keinen Schlaf findet, sollte aber zum Arzt gehen.

Palmprozes­sion:

Der liturgisch­e Brauch der Palmprozes­sion kann auf eine lange Geschichte zurückblic­ken. Wahrschein­lich schon im vierten Jahrhunder­t gedachte man in Jerusalem des Einzugs Jesu in die Heilige Stadt mit einer Palmprozes­sion. Am Nachmittag des Sonntags vor Ostern versammelt­en sich die Gläubigen auf dem Ölberg und zogen dann in die Stadt. Dabei trugen die Kinder Zweige von Ölbäumen oder Palmen in den Händen. Dieser Brauch wurde im 7./8. Jahrhunder­t im Abendland übernommen. Zunächst in Spanien und Gallien, im 11. Jahrhunder­t auch in Rom. Schließlic­h entwickelt­e sich der Brauch, eine Christusfi­gur auf einem Esel zum Mittelpunk­t dieser Prozession zu machen.

Palmesel:

In manchen Familien im Süden und Westen Österreich­s und im Süden Deutschlan­ds lebt die Erinnerung an den Palmesel weiter, wenn am Palmsonnta­g derjenige, der am spätesten aufsteht als Palmesel geneckt wird.

Der Schlaf ist die friedlichs­te Phase des Tages – aber kaum jemand hat Frieden mit ihr.

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