»Vergesst nicht, es ist Krieg«
In der abtrünnigen Ostukraine ist nach drei Jahren Krieg die Verhärtung der Fronten spürbar. Einzig die Anbindung an Russland gibt Hoffnung. Und die Behauptung, dass auf der anderen Seite alles noch schlechter ist.
Als das Konzert im Gungubazz beginnt, ist die Sonne noch nicht untergegangen. Start 18 Uhr, genauso wie auf dem Flyer geschrieben stand, drei Bands, der Zeitplan ist strikt. Bei der lokalen Hardcoreformation Rollout gerät das Publikum in Rage. Junge Männer rempeln und verketten sich zur rasenden Schlagzahl des Drummers. Aggression, Schweiß, Begeisterung. Ein Ritual, gespielte Gewalt, ein Aufschrei der Gegenkultur. Der Barmann zapft Bier wie am Fließband. Bald wird die Show vorbei sein. Zugaben wird es keine geben.
Ausgehen ist in der Donezker Volksrepublik, kurz DNR, eine stressige Angelegenheit geworden, seit die Separatisten hier das Sagen haben. Es bleibt nicht viel Zeit, um Freunde zu treffen, sich zu benebeln und bei dem oder der Angebeteten zu landen. Also Tempo!
Der Barmann schlägt die Glocke. Letzte Runde. Um 22 Uhr ist Sperrstunde. Um 23 Uhr beginnt die von der örtlichen Führung verordnete Ausgangssperre. „Glaubst du, mir macht es Spaß, die Leute rauszuwerfen?“, sagt Igor, der seit Jahren hier die Gäste mit Getränken versorgt. „Für einen Nachtclub ist das eine Katastrophe.“Zufallsgäste sind im Gungubazz selten. Es liegt versteckt in einem Hinterhof im Zentrum von Donezk. Igor war umso überraschter, als vor einiger Zeit fünf Bewaffnete vor ihm standen und die strikte Einhaltung der Sperrstunde verlangten. Andernfalls würde man die Gäste vom Bartresen weg verhaften.
Nach knapp drei Jahren Krieg zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Separatisten ist das einst berühmt-berüchtigte Nachtleben von Donezk zum Erliegen gekommen. Das Gungubazz war früher ein Hort der lokalen Gegenkultur, bekannt über die Donbass-Metropole hinaus. Musiker aus Charkiw und Dnipro traten auf, ebenso wie der Poet und Punkmusiker Serhij Zhadan. Er kann hier heute wegen seiner proukrainischen Position nicht mehr auf der Bühne stehen, die Frontlinie trennt die einen Musiker von den anderen. Vorbei mit dem Vergnügen. Die Donbass-Metropole hat seit der Jahrtausendwende das Image einer schmutzigen Bergarbeiterstadt abgeworfen wie ein nicht mehr benötigtes Kleidungsstück. Sie war bekannt für ihre Vergnügungstempel: dekorierte Themenrestaurants und Clubs, in denen Neureiche den Donezker Way of Life zelebrierten. Das ist vorbei. Bis 23 Uhr müssen alle zu Hause sein: von der Verkäuferin bis zum Taxifahrer. Eine Ausnahme macht der Club im Luxushotel Shakhtar Plaza, wo bis zum Morgengrauen getanzt wird. Nach 23 Uhr verlasse man das Areal „auf eigene Gefahr“, heißt es in der Lobby ominös. Durchschnittsbürger können sich das Eintrittsticket sowieso nicht leisten. Wohnungspartys sind wieder beliebt. Hardcore-Konzert unter Zeitdruck in der Hinterhofbar Gungubazz (links). In der Industriestadt Jenakiewo nordöstlich von Donezk fürchten die Arbeiter nach der Schließung des Metallurgiewerks um ihre Zukunft (rechts).
Offiziell gerechtfertigt wird die Ausgangssperre mit dem seit 2014 herrschenden Kriegszustand. Vor drei Jahren besetzten (pro-)russische Aktivisten öffentliche Gebäude in mehreren Städten des ostukrainischen Donbass als Reaktion auf den Triumph der prowestlichen Kräfte in Kiew. Am 7. April 2014 erklärte man die Souveränität der Donezker Volksrepublik. Eine Woche später startete die ukrainische Armee den Versuch der Rückeroberung des abdriftenden Territoriums. Antiterroroperation, ATO, lautet noch immer der offiziell verwendete Begriff für den Krieg im Osten. Nur dank russischer militärischer und finanzieller Unterstützung konnten die Separatisten ihre Macht konsolidieren.
Drei Jahre später steht die ukrainische Armee auch heute noch vor den Toren von Donezk ohne Aussicht auf Vorankommen. Die Zerstörungen in den Randbezirken der früheren Millionenstadt sind Zeugnis eines Kriegs mit mehr als 10.000 registrierten Toten, in dem kaum mehr Gebietsgewinne gemacht werden. Die Frustration unter den Militärs über den Stillstand im Feld ist auf beiden Seiten groß, doch das im Februar 2015 geschlossene Abkommen von Minsk zwingt die Kriegsparteien – wenn auch mehr schlecht als recht – zur Zurückhaltung. Ein Friedensschluss ist nicht zu erwarten, und die Stagnation spielt jenen Kräften in die Hände, die lieber Krieg als Kompromisse wollen.
Mehr noch als für die Kiewer Regierung ist für die Donezker Führung der Krieg der dringend benötigte ideologische Kitt, der die nur mäßig begeisterten Bürger der „jungen Republik“zusammenhält. Regelmäßig beschwört man auf dem abtrünnigen Territorium, das geschätzte 2,3 Millionen Menschen bewohnen, die Gefahr einer Offensive der ukrainischen Armee oder die Bedrohung durch Spione und „faschistische“Partisanen. Erst am Freitag versam-
Nach 23 Uhr darf niemand mehr auf die Straße. Private Partys sind wieder beliebt. Die Bedrohung durch den Feind muss ständig beschworen werden.